Ein allzu schönes Mädchen
sagte: «Außerdem
hattest du Recht. Meine Kopfschmerzen sind wie weggeblasen.»
Marthaler stand auf. «Wenn jemand nach mir fragt: Ich bin im Kriminaltechnischen Labor. Und nachher fahre ich wohl noch einmal
in den Wald. Ich weiß nicht, ob ich später noch reinkomme. Grüß deinen Mann von mir. Und grüß auch deine Tochter.»
«Das mache ich. Soll ich ihr etwas ausrichten?»
«Ja, sag ihr… Nein, sag ihr lieber nichts.»
Marthaler mochte diese unangestrengten Gespräche mit seiner Sekretärin, bei denen keiner dem anderen etwas beweisen musste
und sie sich gegenseitig nichts übel nahmen. Sie |75| konnten über das Wetter reden, ohne damit etwas anderes zu meinen; sie konnten aber auch einfach schweigen, ohne dass es je
peinlich wurde.
Auch für das Kriminaltechnische Labor war das alte Gebäude des Polizeipräsidiums längst zu eng geworden. Große Teile der Abteilung
waren vor vielen Jahren ausgelagert und auf dem Gelände der Universität untergebracht worden. Nur Carlos Sabato hatte sich
geweigert, mit seinen beiden Mitarbeitern umzuziehen, und stattdessen darauf bestanden, weiter im Keller des alten Präsidiums
zu residieren. Hätte man ihm dieses Zugeständnis nicht gemacht, hätte er seinen Dienst bei der Polizei quittiert. Der Satz,
mit dem er damals seine Kündigung angedroht hatte, war inzwischen legendär geworden: «Bevor ich hier weggehe, gehe ich hier
weg», hatte er gesagt. Weil aber alle wussten, dass man einen Mann wie Sabato nicht so leicht würde ersetzen können, hatte
man ihm schließlich erlaubt zu bleiben.
Und nicht nur das, man hatte ihm sogar gestattet, zwei Katzen in seinem Kellerverlies zu halten. Ein Zugeständnis, das bei
einigen Kollegen zu der Einschätzung führte, dass dieser Mann ja wohl Narrenfreiheit genieße. Die Katzen waren zunächst im
Besitz seiner Eltern gewesen, die sie auf die Namen Dolores und Ernesto getauft hatten. Als seine Mutter gestorben und sein
Vater ins Altersheim gekommen war, hatte Sabato die beiden Tiere mit nach Hause genommen. Da sich nach kurzer Zeit jedoch
herausstellte, dass seine Frau unter einer Allergie litt, war Sabato eines Morgens mit Ernesto und Dolores im Präsidium aufgetaucht
und hatte sie, ohne lange zu fragen, auf dem Gang des alten Kriminaltechnischen Labors einquartiert. Dort hatten sie, verwöhnt
von den Kolleginnen und Kollegen, gelebt, bis sie im letzten Frühjahr an ein und demselben Tag hochbetagt gestorben waren.
Sabato |76| hatte sich einen Tag Urlaub genommen und die beiden Tiere wie ein altes Ehepaar unter dem Apfelbaum in seinem Garten beerdigt.
Carlos Sabato war Mitte der fünfziger Jahre mit seinen Eltern von Llanes, einer kleinen Stadt in Asturien, nach Deutschland
gekommen. Sein Vater hatte auf Seiten der Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft und später im Untergrund gearbeitet.
Mit der Übersiedlung war er seiner Verhaftung durch die francistische Polizei nur knapp entkommen. So hatte die Familie denselben
Weg über die alten Schmugglerpfade in den Pyrenäen genommen, den einige Jahre zuvor die deutschen Emigranten in umgekehrter
Richtung auf ihrer Flucht vor dem Nazi-Regime gegangen waren.
Carlos, der zur Zeit ihrer Flucht noch ein Kind gewesen war, war in Frankfurt aufgewachsen, zur Schule gegangen, hatte hier
studiert und schließlich sowohl in Biologie als auch in Chemie promoviert. Obwohl man ihm während seiner Studienzeit an mehreren
europäischen Universitäten ein Stipendium angeboten hatte und er auch später jederzeit für das doppelte und dreifache Gehalt
in eines der großen Industrielabors in Mailand, Lyon oder London hätte wechseln können, hatte er es immer abgelehnt, die Stadt
zu verlassen. «Ich bin nicht gekommen, um zu gehen», hatte er gesagt, «ich bin gekommen, um zu bleiben.» Diesen Satz äußerte
er allerdings auch dann, wenn er auf der Geburtstagsfeier eines Kollegen eingeladen war oder wenn man sich mit ihm nach Feierabend
noch auf ein Glas in einer Apfelweinwirtschaft verabredete, was zur Folge hatte, dass ein mit ihm verbrachter Abend meist
erst im Morgengrauen endete.
Carlos Sabato war knapp über einsneunzig groß, wog hundertzwanzig Kilo und war bekannt dafür, dass er im Restaurant zwei Menüs
auf einmal bestellte. Er aß nicht nur übermäßig viel, sondern auch gerne und gut, und so besuchte ihn Marthaler |77| gelegentlich in seinem Kellerverlies aus dem einzigen Grund, um Rezepte auszutauschen.
«Dein
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