Ein allzu schönes Mädchen
Schultern und wünschte ihnen
einen schönen Abend.
Im Hof schloss er sein neues Fahrrad los und schob es bis zur Vorderseite des Präsidiums. Er trug es über die Straßenbahnschienen
auf die andere Seite der Düsseldorfer Straße und fuhr dann durchs Bahnhofsviertel, wo bereits die Leuchtreklamen der Bordelle
und Striptease-Lokale blinkten. Eine merkwürdige Mischung von Menschen hielt sich um diese Zeit hier auf: Bankangestellte
auf dem Weg nach Hause oder in eine der Bars, neugierige Touristen, Japaner, Amerikaner, Franzosen, aber auch solche, die
aus den Dörfern der Umgebung für einen Abend hierher kamen, um den Kitzel des Verbotenen zu genießen. Etwas weiter, schon
in der Münchner Straße, dann die Besitzer und Kunden türkischer Gemüseläden und Metzgereien, schwarze Frauen, die sich in
einem Laden namens Black Beauty frisieren ließen, Straßenmädchen auf der Suche nach Kundschaft, verwahrlost aussehende Junkies
und Cracker, die auf den Bordsteinen saßen oder sich in einen Hauseingang drückten. Und von allen Seiten strömten die Freier
herbei, um rastlos treppauf, treppab durch die Laufhäuser in der Mosel- und der Elbestraße zu streifen, bevor sie sich dann
für zehn Minuten oder eine Viertelstunde von einem der Mädchen auf ein Zimmer locken ließen.
Sie alle, die dieses Viertel bevölkerten, traf man wieder in den zahllosen Gaststätten, und Marthaler hätte Lust gehabt, sich
gerade heute für zwei, drei Stunden in eine dieser Kneipen zu setzen, dem Gerede am Tresen und den Schlagern aus der Jukebox
zuzuhören und sich schweigend mit ein paar Bieren |117| der Nacht entgegenzutrinken. Stattdessen fuhr er bis zum Theater, überquerte den Fluß auf der Untermainbrücke, schlängelte
sich durch die schönen Altbauviertel Sachsenhausens und war erschöpft, als er den Anstieg des Großen Hasenpfades bewältigt
hatte und vor seiner Haustür angekommen war. Er brachte das Rad in den Kellergang und schloss es ab.
Im Treppenhaus fing ihn die alte Hausmeisterin ab. Obwohl sie so tat, als sei ihr Zusammentreffen ein Zufall, hatte sie offensichtlich
auf ihn gewartet. «Ah, schönen guten Abend, Herr Marthaler, gut dass ich Sie treffe.»
«Warum?», fragte Marthaler.
«Es gibt Klagen über Sie.»
«Von wem?»
«Das möchte ich nicht sagen. Aber Sie müssen daran denken, die Haustür abzuschließen.»
Marthaler hatte Mühe, freundlich zu bleiben.
«Ja», sagte er. «Ich werde es versuchen.»
«Das reicht nicht, Sie müssen es auch tun.»
Er merkte, wie sein Blutdruck stieg und wie er böse wurde. Er sah die alte Frau geradewegs an und schwieg. Sie wurde nervös
und machte sich an ihrem Schlüsselbund zu schaffen.
«Ist das alles?», fragte Marthaler.
«Ich mein ja nur. Es passiert halt so viel. Das müssten Sie doch am besten wissen. Es ist halt nicht mehr wie früher, dass
man alle Türen offen lassen kann.»
«Was meinen Sie mit früher?», fragte Marthaler. «Meinen Sie, als es noch einen Blockwart gab, der aufgepasst hat, dass keine
jüdischen Hausierer und keine Zigeuner ins Haus kommen?»
«Also bitte, hören Sie mal, Herr Marthaler, ich tue doch nur meine Pflicht.»
«Genau», sagte er. «Das ist es, was ich meine.»
|118| Er ließ die Hausmeisterin stehen und ärgerte sich noch im gleichen Moment über sich selbst.
Er zog die Wohnungstür hinter sich ins Schloss. Noch eine Viertelstunde, bis Petersen kommen würde, um ihn abzuholen. Marthaler
schaltete die Musikanlage ein und legte eine Aufnahme mit den «Nocturnes» von Frederic Chopin in den C D-Spieler . Dann zog er sein Hemd aus, ging ins Bad und steckte den Kopf unter Wasser. Er nahm zwei Kopfschmerztabletten, ging zurück
ins Wohnzimmer, ließ sich in den Sessel fallen und schloss die Augen. Als es an der Tür läutete, war er gerade eingeschlafen.
|119| Zwölf
Eine halbe Stunde später standen sie auf der Autobahn am Frankfurter Kreuz, wo sich wie jeden Abend um diese Zeit der Verkehr
staute. Und auch als sie Darmstadt schon hinter sich gelassen hatten, kamen sie nur langsam voran. Zwischen dem Rhein und
der Hessischen Bergstraße fuhren sie die alte A5 Richtung Süden. Die Sonne ging gerade unter, und auf den Dächern der Häuser, die sich östlich von ihnen an die Hänge drückten,
spiegelte sich das rote Abendlicht.
«Wenn es dir nichts ausmacht», hatte Marthaler gleich gesagt, als er zu Manfred Petersen in dessen 190er Mercedes gestiegen
war, «würde ich gerne einfach
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