Ein allzu schönes Mädchen
offensichtlich nach Hause geschickt. Der
Esstisch war gedeckt. Kurz bevor Marthaler eingetroffen war, hatte der Konditor die Hochzeitstorte geliefert. Jetzt stand
sie dort unberührt und begann schon in der Hitze des Vormittags zu zerfließen. Niemand war auf die Idee gekommen, sie in den
Kühlschrank zu stellen. Später, wann immer Marthaler an diesen Vormittag zurückdachte, hatte er stets den traurigen Anblick
der zerstörten Hochzeitstorte vor Augen. Sie war wie ein Symbol für das schreckliche Verbrechen, das er den Angehörigen offenbaren
musste.
|156| Nichts in dem Haus verriet etwas über seine Bewohner. Alles war neu und wirkte unbenutzt. Die Einrichtung war weder geschmacklos
noch billig, aber die Räume sahen aus wie aus dem Werbeprospekt eines Möbelhauses.
Mit dem Kopf zeigte Marthaler in Richtung des Nebenzimmers.
«Bettina», sagte Funke, «die Braut. Und ihre Mutter. Sie ist … Bettina ist verständlicherweise nervlich etwas angespannt. Ich … ich weiß nicht, wie wir Ihnen helfen können? Ich denke, Sie brauchen vielleicht ein Foto meines Sohnes, um die Suche einleiten
zu können. Nehmen Sie doch bitte Platz! Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?»
Marthaler schüttelte den Kopf.
«Nein, danke», sagte er, «ich würde gerne mit Ihnen reden. Können wir nach nebenan gehen?»
Funke schaute seine Frau hilfesuchend an. Sein blasses Gesicht wurde grau. Es war offensichtlich, dass ihn die Situation überforderte.
Seine Augen verrieten, dass er den unabwendbaren Schlag bereits erwartete. Er führte Marthaler in die Küche.
Marthaler wusste nicht, wie er anfangen sollte. Er merkte, wie seine Knie zu zittern begannen. Sein Kopf war leer. Wie bringt
man einem Vater bei, dass sein Sohn tot ist? Dass er nicht nur tot ist, sondern ermordet, dass er nicht nur ermordet, sondern
abgeschlachtet wurde? Alles, was Marthaler in den Seminaren darüber gelernt hatte, wurde zu Makulatur. Funke starrte ihn an.
«Sie … Sie wissen etwas, nicht wahr?»
Marthaler nickte stumm mit dem Kopf.
Funkes Augen füllten sich mit Tränen. Er ließ sich auf einen Stuhl sinken.
Marthaler zog das Foto des Toten aus der Tasche und legte es auf den Küchentisch. «Herr Funke, ich kann es Ihnen nicht ersparen.
Ist das Ihr Sohn?»
|157| Funke warf einen flüchtigen Blick auf das Foto. «Oh, mein Gott.»
Mit einem Seufzer schien jede Kraft aus dem Mann zu entweichen. Er beugte sich über die Tischplatte und vergrub sein Gesicht
in den Händen. Sein Oberkörper bebte vor Schmerz.
Im selben Moment erklang von der Küchentür ein gellender Schrei. Marthaler wusste nicht, wie lange die Braut dort bereits
gestanden hatte. Schreiend und mit weit geöffneten Augen warf sie sich über den Tisch und riss das Foto an sich. Sie sank
auf die Knie, sie drückte das Bild an ihre Brust und schrie immer weiter. Sie schrie und schrie. Marthaler konnte nichts tun.
Er wandte sich ab. Er hielt sich an der Spüle fest und starrte aus dem Fenster. Es kam ihm vor, als würden Stunden vergehen.
Irgendwann ging das Schreien der jungen Frau in lautes Gewimmer über.
Es hatten sich alle in der Küche versammelt. Marthaler hatte Angst um Bettina. Er bat den Vater der Braut, mit ihm ins Wohnzimmer
zu kommen. Er riet ihm, einen Arzt zu rufen.
«Bernds Vater ist Arzt.»
«Ich glaube nicht, dass er momentan in der Lage ist, Ihrer Tochter zu helfen», erwiderte Marthaler. Dann erzählte er, was
geschehen war.
«Ich benötige Ihre Hilfe», sagte er. «Wir müssen dringend wissen, wer die Frau und die beiden Männer waren, mit denen Bernd
Funke unterwegs war. Ich fürchte, Ihre Tochter wird bis auf weiteres nicht vernehmungsfähig sein, aber wir benötigen die Informationen
so schnell wie möglich. Ich wäre dankbar, wenn Sie rasch mit ihr sprechen könnten. Und wir brauchen jemanden, der den Leichnam
identifiziert. Den Eltern würde ich das gern ersparen. Darf ich Sie bitten, das zu übernehmen?»
Der Mann nickte stumm.
|158| «Ich werde jetzt gehen», sagte Marthaler. «Bitte rufen Sie mich bald an.»
Marthaler gab ihm seine Karte. Der Mann steckte sie ein.
«Mir tut das alles sehr Leid», sagte Marthaler.
Bettinas Vater sah ihn an.
«Er war ein Schwein», sagte er dann.
«Was?»
Marthaler war zu verdutzt, um zu verstehen. Der Mann wiederholte seinen Satz. «Bernd Funke war ein Schwein.»
|159| Siebzehn
Marthaler lief zurück in den Ort und suchte sich einen Taxistand. Er ließ sich auf die
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