Ein allzu schönes Mädchen
Hausfrauen waren unterwegs, um einzukaufen. Er sah in den Himmel. Er
schwitzte. Für einen Moment träumte er sich weg aus dieser Stadt, aus diesem Tag. Gerne wäre er jetzt irgendwo im Süden gewesen,
vielleicht in einer provençalischen Kleinstadt, hätte sich auf den Marktplatz vor eine Bar gesetzt, ein paar Francs in die
Musikbox gesteckt, einen Pastis getrunken und den Leuten zugeschaut, die vorübergingen, oder sich einfach an der schönen Maserung
der Platanenstämme erfreut. Aber er war hier, in dieser Stadt, in diesem Vorort, mit diesen Leuten. Und das, was er gleich
würde tun müssen, war eine der unangenehmsten Aufgaben, die er sich denken konnte. Er schaute sich um und merkte, dass man
ihn beäugte. Ein Fremder fiel hier auf.
Auch wenn er in Kürze einen ersten Ermittlungserfolg erzielen würde – ihn beschäftigte vor allem, dass er eine Todesnachricht
überbringen musste. Er würde einer Braut sagen müssen, dass die Hochzeit nicht stattfinden konnte, weil der Bräutigam tot
war.
Er betrat einen Supermarkt. Es war angenehm kühl in dem Laden. Er wollte nichts kaufen. Er war nur hier, um sich eine Gnadenfrist
zu geben. Vor ihm schob eine alte Frau langsam ihren Einkaufswagen durch den Gang. Sie war ärmlich gekleidet, ging in Pantoffeln
und Kittelschürze. In dem Wagen lagen |154| nur billige Waren: eine Flasche Korn, abgepackte Wurst aus dem Sonderangebot, ein Liter H-Milch . Sie schaute sich um und lächelte ihm aus feuchten Augen zu. Er nickte. Am liebsten hätte er ihr etwas Aufmunterndes gesagt.
Er ging zum Kühlregal und stand unschlüssig davor. Er nahm einen Becher Buttermilch, stellte ihn aber wieder zurück. Ein Mann
im weißen Kittel, vielleicht der Filialleiter, beobachtete ihn aus dem Lagerraum. Marthaler beschloss, eine Packung Weingummi
zu kaufen. Als er das Regal mit den Süßwaren gefunden hatte, sah er, wie die alte Frau gerade eine Tafel Schokolade in der
Tasche ihrer Kittelschürze verschwinden ließ. Die Alte drehte sich um und sah ihn ängstlich an. Marthaler hob die Brauen,
dann grinste er. Er ging zur Kasse.
Draußen zog er sein Jackett aus und warf es sich über die Schulter. Die Tüte mit dem Weingummi schenkte er ein paar Kindern,
die ihm verwundert nachschauten. Er ging ein Stück bergauf. Bald hatte er den alten Ort hinter sich gelassen und die Felder
erreicht.
Schon von weitem sah er den Eiswagen, der dort mitten auf dem Weg stand. Als er bei dem V W-Bus angekommen war, lugte er durch die Scheibe der Fahrertür. Der Eismann hielt ein Nickerchen. Marthaler klopfte an das Fenster.
Der Mann streckte sich, dann öffnete er die Tür. Marthaler bestellte drei Kugeln Fruchteis mit Sahne im Becher.
«Vier achtzig», sagte der Eismann und gähnte.
Marthaler gab ihm ein Fünfmarkstück und sagte:
«Stimmt so. Können Sie mir sagen, wo die Bernsthaler Straße ist?»
Der Mann zeigte in Richtung eines Neubaugebietes.
Der Kommissar machte sich auf den Weg.
Er ging langsam. Seine Schuhe waren staubig. In der Ferne sah man den Großen Feldberg. Marthaler spürte, wie der Schweiß an
seinem Oberkörper hinablief. Sein Handy läutete. |155| Er schaltete es aus, ohne sich zu melden. Wahrscheinlich waren es die Kollegen, die ihn nach seinem überstürzten Aufbruch
vermissten. Als er sein Eis aufgegessen hatte, steckte er sich eine Mentholzigarette an. Er blieb stehen und inhalierte den
Rauch tief. Nach drei Zügen warf er die Zigarette weg und ging weiter.
Das Haus war noch unverputzt. Die orangefarbenen Backsteine leuchteten in der Sonne. Marthaler balancierte über die wackligen
Bohlen bis zur Eingangstür. Bevor er noch klingeln konnte, wurde die Tür geöffnet. Schon jetzt hatte er das Gefühl, ein Trauerhaus
zu betreten. Ein groß gewachsener blasser Mann sah ihn fragend an.
«Robert Marthaler, Kriminalpolizei. Sind Sie der Vater des … Sind Sie Herr Funke?»
Der Mann nickte. Er bat Marthaler herein.
«Das ging aber schnell», sagte er. Seine Stimme klang rau, unsicher. «Ich hoffe nur, es hat keinen Unfall … Es ist nicht die Art meines Sohnes … Aber kommen Sie doch bitte rein.»
Im Wohnzimmer saßen ein Mann und eine Frau. Marthaler gab beiden die Hand. Es waren der Vater der Braut und die Mutter des
Vermissten. Es sah nicht so aus, als seien die beiden sehr vertraut miteinander. Aus dem Nebenzimmer hörte Marthaler eine
Frauenstimme, die beruhigend auf jemanden einredete. Die anderen Gäste hatte man
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