Ein allzu schönes Mädchen
spätestens bekommen. Sicher würde keiner der Betreiber dieser Einrichtung sich jemals selbst hier behandeln lassen.
Die Rasenflächen auf dem Außengelände waren mit wenigen kargen Büschen bepflanzt. Alles wirkte unendlich lieblos. Ein paar
alte Leute in Jogginganzügen schlurften über die Gehwege, andere wurden im Rollstuhl geschoben. Marthaler kam es vor, als
sei es hier kälter als in Frankfurt. Ihn fröstelte. Unwillkürlich zog er sein Jackett ein wenig fester zusammen. Dann betrat
er durch eine breite automatische Glastür die Eingangshalle. An der Rezeption fragte er nach Herbert Weber. Man sagte ihm
das Stockwerk und die Zimmernummer.
Es gab zwei Aufzüge, aber nur einer funktionierte. Die Zeit, die er warten musste, kam ihm endlos vor. Unkonzentriert überflog
er die Ankündigungen am schwarzen Brett. Ein Bastelkurs für Schlaganfallpatienten wurde angeboten, man konnte an einem Bibelkreis
teilnehmen, und für den kommenden Samstag waren alle Patienten zu einem Heimatabend mit Tanz und Livemusik eingeladen. Der
Eintritt war frei.
Auf der beleuchteten Anzeigetafel sah Marthaler, dass der Fahrstuhl in jeder Etage hielt. Schließlich beschloss er, die Treppe
zu nehmen. Als er im sechsten Stock angekommen war, atmete er schwer. Er öffnete die Feuertür, ging den langen |245| Flur entlang und fand schließlich die richtige Zimmernummer. Er klopfte, aber es meldete sich niemand.
«Der ist beim Abendbrot», sagte eine Frau im Morgenmantel, die gerade aus ihrem Apartment kam und sich sogleich eine Zigarette
ansteckte.
«Aber es ist doch erst halb fünf», sagte Marthaler.
«Ja, aber hier fangen die Tage früh an.»
«Und Sie, gehen Sie nicht essen?»
«Nee, ich rauche lieber. Gibt sowieso nur Hagebuttentee und Gelbwurst. Jeden Tag.»
Marthaler setzte sich auf einen der Plastikstühle, die neben den Aufzügen standen. Er hatte beschlossen, hier auf den Wachmann
zu warten. Die Frau im Morgenmantel setzte sich neben ihn, steckte sich eine weitere Zigarette an, sagte aber nichts mehr.
Nach zehn Minuten kamen zwei männliche Patienten aus dem Fahrstuhl.
«Ist einer von Ihnen Herbert Weber?», fragte Marthaler.
«Ja, warum?»
Marthaler erhob sich von seinem Stuhl und stellte sich vor. Sofort fiel ihm die Unsicherheit des Mannes auf. «Können wir uns
irgendwo ungestört unterhalten?»
Weber machte eine vage Bewegung in Richtung seines Apartments. Er ging voraus. Dann schloss er die Tür auf und bat Marthaler
hinein.
«Ich habe mir schon gedacht, dass Sie kommen würden», sagte er.
Marthaler sah ihn erstaunt an. «Warum? Weil Sie mir vorhin am Telefon nicht die Wahrheit gesagt haben?»
Weber nickte. Dann begann er zu erzählen. Er schien nur auf eine Gelegenheit gewartet zu haben, jemandem sein Herz auszuschütten.
Er berichtete, dass er befürchtet habe, seine Kur nicht antreten zu können, wenn er den Vorfall in der Villa |246| Brandstätter gemeldet hätte, er sagte, dass er sich krank und müde fühle und lieber heute als morgen bei der Kelster-Sekuritas
kündigen würde. Er erzählte von seinen Schwierigkeiten, sich im Westen zurechtzufinden, und von seiner Zeit als Lehrer in
der DDR. Mit jeder Minute, die er weitersprach, schien er sich mehr und mehr in seiner Vergangenheit zu verlieren. Marthaler war ungeduldig,
aber er hatte das Gefühl, den Mann reden lassen zu müssen. Es war offensichtlich, dass er einen Menschen vor sich hatte, der
sich zutiefst verbraucht fühlte und Schwierigkeiten hatte, seinem weiteren Leben einen Sinn zu geben.
Schließlich verstummte Herbert Weber. Er stand auf und schaute schweigend aus dem Fenster.
«Wir müssen noch einmal über Ihren letzten Arbeitstag reden», sagte Marthaler. «Was haben Sie gemeint, als Sie von dem ‹Vorfall›
in der Villa sprachen? Was haben Sie bemerkt?»
«Etwas war anders als sonst. Die Mülltonne stand nicht an ihrem Platz. Ich bin um das Haus herumgegangen und habe das kaputte
Dachfenster gesehen. Also habe ich die Haustür aufgeschlossen. Ich hatte Angst. Dann habe ich sie gesehen. Sie saß einfach
da und schaute mich an.»
Marthaler bemerkte, dass Webers Hände zitterten. «Wen haben Sie gesehen?»
«Das Mädchen, diese Frau.»
«Eine fremde junge Frau, die nichts in dem Haus zu suchen hatte?»
Weber nickte.
«Haben Sie mit ihr gesprochen?»
«Nein. Wir haben uns nur angeschaut. Sie war sehr schön. Dann bin ich gegangen.»
«Sonst nichts?»
«Nein.»
«Könnten Sie die Frau
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