Ein allzu schönes Mädchen
Geld. Möglicherweise haben wir irgendetwas übersehen und müssen noch einmal
ganz von vorne beginnen. Vielleicht gibt es aber in diesem Fall auch eine weitere Person, die wir noch nicht kennen.»
Zum wiederholten Mal an diesem Tag schlug Marthaler mit der Hand auf den Tisch.
«Verdammt nochmal, wo ist dieses Mädchen? Und wo ist Hendrik Plöger?»
Die Antwort auf die zweite Frage sollten sie schneller erhalten als erwartet.
|279| Einunddreißig
Es lag nicht nur an der Hitze, dass sie in dieser Nacht kaum Schlaf fand. Ihre Tochter hatte sie am Abend besucht, sie hatten
gemeinsam gegessen und sich dann ins Wohnzimmer ihrer kleinen Wohnung gesetzt, um noch ein wenig zu plaudern. Schon nach kurzer
Zeit hatten sie angefangen zu streiten. Wie so oft ging es um die Fehler, die sie angeblich in ihrer Ehe und in der Erziehung
des Kindes gemacht hatte. Irgendwann hatte sie angefangen zu weinen, und ihre Tochter war aufgestanden und ohne ein versöhnliches
Wort gegangen.
Maria Wieland war Anfang vierzig und arbeitete seit vielen Jahren als Redaktionssekretärin beim Hessischen Rundfunk. Ihre
Arbeit machte ihr noch immer großen Spaß. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass ihr bisheriges Leben nicht so verlaufen
war, wie sie sich das noch vor zwei Jahrzehnten vorgestellt hatte. Die Scheidung, der Umzug in die Zweizimmerwohnung auf dem
Mühlberg und die dauernden Zwistigkeiten mit ihrer Tochter hatten sie viel Kraft gekostet. Trotzdem war sie entschlossen,
die Vergangenheit so gut es eben ging hinter sich zu lassen, ohne deshalb ihre Grundsätze aufzugeben. Die Vorwürfe ihrer Tochter
empfand sie als ungerecht. Nur, weil jetzt eine neue Generation mit neuen Maßstäben heranwuchs, wollte sie ihre eigenen Maßstäbe
nicht einfach über den Haufen werfen. Aber sie war traurig, dass sie es nicht wenigstens schafften, einander so zu akzeptieren,
wie sie waren, und dass auch dieser Abend wieder im Streit hatte enden müssen. Morgen begann ihr langes freies Wochenende.
Drei endlose Tage, um über die immer gleichen Vorhaltungen ihrer Tochter zu grübeln.
|280| Um sich abzulenken, war sie in die Küche gegangen und hatte die Spülmaschine eingeräumt. Dann war sie zurück ins Wohnzimmer
gegangen und hatte insgeheim gehofft, ihre Tochter würde noch anrufen, um sich zu entschuldigen. Lange saß sie neben dem Telefon
und wartete. Sie trank noch eine halbe Flasche Wein und blätterte unkonzentriert in den Illustrierten der vergangenen Woche.
Obwohl schon nach Mitternacht, war es noch immer unerträglich heiß. Sie nickte ein wenig ein, wachte aber eine Dreiviertelstunde
später wieder auf. Sie schaltete den Fernseher ein, drückte ein Programm nach dem anderen, fand aber keine Sendung, die sie
interessierte. Schließlich ging sie ins Badezimmer und zog sich aus. Sie schaute lange in den Spiegel. Erfolglos versuchte
sie, ihrem Gesicht einen zuversichtlichen Ausdruck zu verleihen. Dann löschte sie die Lichter und legte sich ins Bett. Die
Gardinen hatte sie zugezogen, die Balkontür aber offen gelassen, in der Hoffnung, dass wenigstens gegen Morgen ein wenig frische
Luft ins Zimmer käme. Sie hatte sich nur mit einem Laken zugedeckt. Endlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf.
Sie wurde durch ein eigenartiges Geräusch geweckt und war sofort hellwach.
Einen Moment lang blieb sie reglos liegen, dann griff sie so leise wie möglich nach ihrem Wecker auf dem Nachttisch und schaute
auf die Anzeige. Es war 4.43 Uhr.
Vorsichtig stellte sie den Wecker zurück. Sie lauschte.
Als sie bereits glaubte, sich geirrt zu haben, hörte sie das Geräusch erneut. Es war eine Art Grunzen. Es kam direkt von ihrem
Balkon.
Ihre Wohnung lag im Hochparterre, und sie dachte daran, dass sie sich im Frühjahr bereits einmal fürchterlich erschreckt hatte,
als sich eines Abends die Katze der Nachbarn auf ihren Balkon verirrt hatte.
Aber Katzen grunzen nicht.
|281| Und dann war sich Maria Wieland sicher, dass das Geräusch nicht von einem Tier herrührte. Auf ihrem Balkon befand sich ein
Mensch. Ein fremder Mensch. Ein Mann.
Ihr Herz raste.
Fieberhaft überlegte sie, was jetzt zu tun sei. Einen Moment lang dachte sie daran, einfach aufzustehen, ins Wohnzimmer zu
gehen und die Polizei anzurufen. Oder sollte sie sich zunächst anziehen und die Balkontür schließen? Dazu müsste sie aber
erst die Vorhänge öffnen und wäre demjenigen, der dort draußen lauerte, ausgeliefert.
Oder sollte
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