Ein Alptraum für Dollar
emporsteigen, fühlt er sich so einsam wie noch nie in seinem Leben. Er muß versuchen, sich aus dem Haus zu schleichen. Auf Zehenspitzen wagt er sich also zur Tür, lauscht, öffnet sie nur einen Spalt breit und beobachtet die Lage. Alles dunkel, alles still... nichts wie weg!
Geschafft. Endlich steht er auf der Straße und holt erst einmal tief Luft. Das Ganze erinnert ihn an seine Pfadfinderzeit, er lächelt unwillkürlich. Ein toller Abenteurer ist er geworden!
Sein nächtlicher Ausflug dauert allerdings viel länger, als er vorgehabt hatte, und um ein Uhr morgens läuft er immer noch im Regen herum, denn bei seiner Frau brennt noch Licht. Nur kein neues Risiko eingehen! Lieber weiter durch die Nacht wandern.
Endlich geht das Licht aus im Schlafzimmer seiner Frau, und der mutige Ehemann kann nun wieder sein Revier beziehen. Vollbepackt mit Tabak und Viktualien aller Art, genug um tagelang überleben zu können. Bevor auch er zu Bett geht, überzeugt er sich, daß seine Mauer noch intakt ist. Erst dann ist er beruhigt und versucht nun zu schlafen. Es war ein schlimmer Tag — aber die Nacht wird noch viel schlimmer! Er wacht immer wieder schweißgebadet auf, von Alpträumen geplagt. Schlechtes Gewissen? Bestimmt. Aber auch eine gewisse Angst vor der Rückkehr der Omi und des Tantchens. Schon in wenigen Stunden erwartet Juliette die ersehnte Verstärkung!
Um 9 Uhr in der Früh ist der Teufel los hinter der Mauer! Lautstark tagt schon der erste Kriegsrat!
Die liebe Tante — die so reizende alte Dame, die mit allen Leuten immer schrecklich freundlich ist — scheint das Kommando übernommen zu haben. Sie ist in Wirklichkeit eine richtig bösartige kleine Hexe. Das weiß Raymond schon lange. Jetzt kreischt sie, ganz dicht hinter der Mauer, damit er sie auch gut hören kann: »Glaube mir, der ist nicht normal! Du mußt einen Arzt holen! Du bist viel zu geduldig, mein armes Kind. An deiner Stelle hätte ich schon längst den Hausverwalter kommen lassen!
Raymond!, dieses Spielchen hat lange genug gedauert! Meinst du nicht, es wäre endlich an der Zeit, eine vernünftige Erklärung abzugeben? Oder bist du von allen guten Geistern verlassen?«
Monsieur Dumesnil hört diesem gedämpften schrillen Geschrei seiner Tante ziemlich gelassen zu. Er hat ja seine Pfeife, an der er sich festklammern kann. Aber jetzt steht seine Schwiegermutter draußen vor seiner Tür. Sie tobt im Gang mit einem Ton und in Ausdrücken, die er bei dieser feinen Dame niemals vermutet hätte:
»Wissen Sie was? Wissen Sie, was Sie sind? Ein Schlappschwanz!«
Das geht entschieden zu weit! Monsieur Dumesnil reißt die Tür auf und steht wütend vor einer terrorisierenden kleinen Omi, die aufschreiend zurückweicht. Am Ende des Ganges erscheint Juliette. Mit verhaltener Stimme, aber unmißverständlich, ruft sie ihre Mutter zur Ordnung:
»Omi! Komm sofort hierher. Laß Raymond in Frieden! Das hier geht dich nichts an!«
Eine in ihrer Würde beleidigte Leberwurst huscht an Juliette vorbei und zischt:
»Vielen Dank, Juliette, wie du meinst. Ich bin ja auch nur deine Mutter.«
In diesem Moment fühlt Monsieur Dumesnil, wie Panik ihn ergreift. Er hat sich leider aus seiner Festung herausgewagt und steht nun völlig hilflos seiner Frau gegenüber.
Sie ist sehr blaß, allzu ruhig — und ihre Augen verraten die vielen Tränen und die schlaflose Nacht. Sie bringt nur ein einziges Wort heraus:
»Raymond?«
Sein Wortschatz ist in diesem Augenblick auch auf ein Minimum reduziert.
»Ja?«
»Du... du könntest wenigstens... guten Tag sagen...«
»Guten Tag.«
»Haßt du mich denn so sehr?«
»Aber nein... du weißt genau, daß ich dich nicht hasse.«
»Und nun?«
»Nun?«
Das Telefon rettet Raymond!
»Wo steht der Apparat, bei dir oder bei uns?«
»Ich... ich weiß es nicht mehr... Moment... ich glaube... bei dir. Ja, bei dir!«
Juliette zögerte. Das Telefon klingelte immer noch. Die zwei reizenden, beleidigten alten Damen haben anscheinend beschlossen, nicht abzunehmen.
»Geh ruhig hin, Juliette, ich warte hier auf dich.«
Aber kaum steht er allein im Gang, da erwacht wieder sein Selbsterhaltungstrieb. Fluchtartig springt er in seine Wohnung zurück, sperrt die Tür zu und verkriecht sich in der entferntesten Ecke seiner Festung.
Am Tage darauf hört er auf einmal eine autoritäre Männerstimme hinter der Mauer. Sein Schwiegersohn. Der erfolgreiche Mann seiner ältesten Tochter, die er ebenfalls hört. Und auch sein dreijähriger Enkel
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