Ein Alptraum für Dollar
das Beiboot abfieren lassen und bin mit zwei Männern zur >Mary Celeste< gerudert. Wir haben das ganze Schiff durchsucht, alles auf den Kopf gestellt — vom Bugspriet bis zu den Laderäumen, von der Kombüse bis zum Mastkorb... Nichts! Nirgendwo eine Menschenseele. Im Laderaum war die ganze Fracht intakt: Fässer mit Fischtran und Alkohol, Bourbon.«
Der Hafenmeister schüttelt zum ersten Mal den Kopf: »Wenn ich Sie richtig verstehe, hat die Mannschaft ihr Schiff verlassen?«
»So einfach ist es leider nicht! Warten Sie ab, ich habe Ihnen noch lange nicht alles erzählt! Sie sagen zum Beispiel >verlassen Nun ja, vielleicht... aber ich wüßte nicht wie?! Denn alle Rettungsboote waren noch da. Bleiben nur zwei Möglichkeiten: Entweder ist die gesamte Mannschaft über Bord gesprungen, oder aber sie wurde von einem anderen Schiff gefangengenommen. Und das ist im Grunde völlig ausgeschlossen!«
Die Stimme von Moorhouse wird immer dumpfer und auch leiser, als hätte er selber Angst vor dem, was er jetzt schildern muß:
»Meine beiden Offiziere und ich... wir haben unglaubliche Dinge auf dem Schiff entdeckt. In der Kombüse zum Beispiel, da fanden wir im Ofen ein paar gebratene Hühnchen und sie waren lauwarm! Verstehen Sie, lauwarm! Das bedeutet, daß die Mannschaft zumindest eine halbe Stunde vorher noch an Bord war. Und das ist noch nicht alles! In der Offiziersmesse war der Tisch für vier
Personen gedeckt, die Teller waren halbvoll, und das Essen auch lauwarm!
In der Kombüse hing Wäsche — nasse Wäsche, Kommandant. Ganz naß!«
»Captain Moorhouse, ich muß Sie bitten im Namen Seiner Majestät zu schwören, daß alles, was Sie mir da erzählen auch wirklich der Wahrheit entspricht! Denn ungewöhnlich ist es schon. Das muß ich zugeben.«
»Ich schwöre es, Kommandant. Es ist unglaublich, aber es war alles so wie ich sage.«
»Gut, dann fahren Sie fort!«
»Ja, Sir. Es war ein unheimliches, erschreckendes Gefühl. Wir fühlten uns irgendwie beobachtet, obwohl wir keine Zweifel daran haben konnten, allein an Bord zu sein. Uns kam alles so lebendig vor, so ordentlich... Wir kriegten es tatsächlich mit der Angst zu tun, als wir auch noch die Pfeifen der Matrosen neben den Kojen sahen.« Jetzt ist auch der Hafenmeister beunruhigt, denn kein Matrose auf der ganzen Welt verläßt sein Schiff ohne seine Pfeife, wenn die Lage nicht sehr ernst ist!
»In der Kabine des Kapitäns fanden wir auch seltsame Dinge: Kleider, Damenunterwäsche... ein Korsett und Seidenstrümpfe. Aber was uns am meisten überraschte, waren die Klaviernoten. Berge von Partituren! Auf dem Bett lag das Bordbuch mit der letzten Eintragung vom 24. November — das war also zehn Tage, bevor wir das Schiff fanden! Da steht nur: >36 Grad Nördlicher Breite, 27 Grad Westlicher Länge. Ideales Wetter.<
Dann bin ich zur >Dei Gratia< zurückgerudert und habe vier Männer meines Schiffes auf die >Mary Celeste< geschickt. Die >Mary Celeste< liegt am Kai, Kommandant, ich habe sie bis hierher geschleppt.«
»Noch eine Frage, Captain, konnten Sie irgendwelche Spuren von einem Kampf an Bord feststellen?«
»Nein. Selbstverständlich dachten wir zuerst auch an Meuterei, aber es ist völlig ausgeschlossen. Und auch die Möglichkeit eines plötzlich auftretenden Unwetters ist auszuschließen. Es lag ja nicht ein einziger Teller am Boden.«
»Hm, hoffen wir, daß die offiziellen Untersuchungen diesen seltsamen Fall aufklären werden. Im Augenblick kann ich mir auch keinen Reim darauf machen!«
»Kommandant, eines steht jedenfalls fest: Die Mannschaft der >Mary Celeste< ist verschwunden... wie auch immer. Und ich habe das Schiff in den Hafen zurückgeschleppt und gerettet. Bekomme ich die Bergungsprämie?«
»Das werden wir sehen. Wir müssen die Ergebnisse der Untersuchungskommission abwarten.«
Kapitän David Moorhouse begleitet den Hafenmeister zur »Mary Celeste«, und die Untersuchungen beginnen auf der Stelle.
Tagelang durchsuchen die Beamten der Hafenpolizei den amerikanischen Schoner. Moorhouse hat nicht gelogen. Das Schiff befindet sich in allerbestem Zustand — keine Spur von Havarie oder eines Kampfes. Das heißt... doch! Nach einer Woche entdeckt die Polizei einen bräunlichen Fleck vor der Kabine des Kapitäns. Es könnte Blut sein. Und vorne an Deck sind einige Kerben zu sehen, sie könnten von einer Axt stammen.
Zwei Indizien — zwei sehr schwache Indizien, aber sie reichen aus. Und die Untersuchungskommission kommt zu dem
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