Ein Alptraum für Dollar
Schieferdächern. Um den kleinen Hafen herum drängen sich gemütliche Fischerkneipen, als wollten sie sich gegenseitig vor dem peitschenden Wind schützen, der über das Land fegt.
Während der langen Herbst- und Wintermonate ist die See oft zu wild für die leichten Boote, und die Fischer sitzen stundenlang in den warmen Pubs, bis der Sturm sich legt und sie mit der Flut auslaufen können.
Da wird nicht nur anständig getrunken und fröhlich gesungen — man diskutiert auch, und vor allem werden die tollsten Seeabenteuer erzählt.
Unter den großen »Volksrednern« gibt es einen im Dorf, der alle anderen übertrifft. Er heißt John Pemberton — ein alter Seebär mit zerzausten weißen Haaren und einem unstillbaren Durst. Und der kennt wirklich die besten Matrosengeschichten! Außerdem hüpft er auf einem Holzbein... wenn das kein Beweis für ein wildes Leben auf See ist!
Viele halten ihn allerdings für einen versoffenen alten Spinner — aber alle mögen ihn, sie bewundern den Alten sogar ein bißchen, trotz seiner Marotten. Auch wenn er viel hinzudichtet, eines ist sicher: Er hat wirklich sein ganzes Leben auf richtigen Schiffen verbracht und nicht auf Nußschalen wie die meisten Fischer vom Dorf.
Nur in einem Punkt wird er von niemandem ernstgenommen: Wenn er von der »Mary Celeste« spricht. Da grinst er immer und behauptet geheimnisvoll:
»Ich... ich weiß genau, was passiert ist! Ich war damals selber an Bord!«
Mehr verrät er allerdings nie. Ganz egal, wie sehr sie ihn alle drängen, ganz egal, wieviel Whisky oder Bier man ihm spendiert — diese Geschichte erzählt er nicht! Er schweigt wie das Grab.
Er schweigt jahrelang. Bis zu dem bewußten Abend im Jahre 1926.
Da erscheint plötzlich ein junger Mann in dem rauch vernebelten Pub. Ein Fremder. Einer aus der Stadt, das sieht man ihm sofort an.
Pemberton freut sich immer, wenn fremde Gäste auftauchen.
Heute abend ist er noch relativ nüchtern, und doch macht er sich gleich an den jungen Mann heran. Der heißt Laurence Keating und ist Journalist. Matrosengeschichten sind eigentlich nicht sein Ressort... Aber als sein neuer »Freund« von sich aus beginnt, über die »Mary Celeste« zu reden, da wittert seine journalistische Nase einen ganz guten Stoff, woraus sich vielleicht doch etwas machen läßt. Nicht, daß er sich große Illusionen macht, nun die Wahrheit herauszubekommen, trotzdem fragt er ihn direkt:
»Was wissen Sie über die >Mary Celeste«
»Alles, ich weiß alles!«
Da lacht ihn die ganze Bande wieder aus:
»Ja, ja! Sagt er! Aber mehr auch nicht! Das >große< Geheimnis um das >große< Rätsel!! Geben Sie’s auf, junger Mann, der wird nie reden, er weiß auch gar nichts drüber!«
Mit gestrengem Ton, der alle verwundert, zischt Pemberton:
»Doch! Ich weiß alles!«
Dann wendet er sich dem sympathischen Journalisten zu und lächelt ihn väterlich an:
»Junge, du gefällst mir! Du möchtest also gerne wissen, was damals auf der >Mary Celeste< passiert ist?! Na gut, ich werd’s dir erzählen! Warum eigentlich nicht? Ich bin jetzt dreiundsiebzig Jahre alt, und alle anderen sind schon tot... Ich wollte sowieso drüber reden, bevor ich selber ins Gras beiße.«
In der kleinen Fischerkneipe herrscht auf einmal eine ganz unübliche, gespannte Stille. Pemberton hebt sein Glas und ruft in die Runde:
»Auf die >Mary Celeste Jeder hält den Atem an. Der Alte wird reden! Endlich. Laurence Keating stellt die Frage, die sich alle Welt seit fünfzig Jahren vergeblich stellt:
»War es ein Geisterschiff oder nicht?«
»Ein Geisterschiff?! Haben wir gelacht damals, wie wir den ganzen Unsinn gehört haben! Nein, nein. Geister haben da nicht mitgespielt! Ein großer Geist, ja! David Moorhouse! Der hat alles erfunden und alle zum Narren gehalten! Es war ein abgekartetes Spiel... und es hat so gut geklappt!«
Jetzt, vierundfünfzig Jahre danach — jetzt, da Captain Moorhouse lange tot ist, kann man leicht behaupten, er hätte alles erfunden. Laurence Keating gibt sich damit nicht zufrieden: »Als Kapitän Moorhouse das Schiff geentert hat, war da jemand an Bord?«
»Aber ja doch! Wir haben ihn mit größter Freude und auch mit Erleichterung empfangen!«
»Nun, wenn... wenn es so war, warum hat Kapitän Moorhouse gelogen?«
»Junger Freund, das ist eine lange, sehr lange Geschichte.«
Und John Pemberton erzählt endlich das Geheimnis der »Mary Celeste«.
Alles beginnt Anfang November 1872. Im Hafen von New
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