Ein Alptraum für Dollar
einzige Zeuge. Ja, aber so einfach geht das nicht. Ein französischer Brigadier darf nicht von sich aus einen schweizer Brigadier darum bitten, für ihn im Ausland Nachforschungen anzustellen. Auch nicht, wenn die beiden Polizeibeamten
einige hundert Meter voneinander entfernt wohnen und sogar miteinander gut befreundet sind.
Nein, INTERPOL muß eingeschaltet werden, und das Generalsekretariat dieser weltweiten Organisation sitzt in Paris. Wenn schon, Paris wird sich also mit dem Fall beschäftigen müssen!
INTERPOL setzt sich sofort mit dem B. N. C. von Zürich in Verbindung. »B. N. C.« ist die Abkürzung für die rund um die Welt verteilten »Nationalen Zentralbüros«. Die Akte »Vivien-Vervier« landet auf dem Schreibtisch des eidgenössischen Inspektors Ziegler, der sofort nach Les Brenets reist, wo der ländliche Gendarm sich von diesem Augenblick an nicht mehr anzustrengen braucht. Er wird von höchster internationaler Stelle sozusagen vorübergehend beurlaubt. Er darf zwar den Kriminalisten aus der Stadt überallhin begleiten, aber er hat nichts mehr zu sagen. Leider.
Als Jean-Louis Vervier von dem INTERPOL-Experten ins Kreuzverhör genommen wird, weiß er nichts anderes zu berichten als das, was er dem Ortsgendarmen schon erzählt hat. Und immer wieder beteuert er seine Unschuld:
»Ich hab’ ihn nicht umgebracht! Warum hätt’ ich den armen Kerl denn erschießen sollen? Ich kannte ihn nicht einmal.«
Das leuchtet ein. In 99% aller Mordfälle gibt es einen handfesten Beweggrund, und der schweizer Bauer hatte wirklich keinerlei Anlaß, den französischen Schneckenjäger zu erschießen! In der Schweiz tappt der B. N. C. im dunkeln — und in Paris kann sich INTERPOL keinen Reim auf diese belanglose Affäre machen. Bis dem französischen Brigadier auf einmal die »Kleinigkeit« wieder einfällt, die bei der Leiche gefunden wurde und die ihn schon damals hätte stutzig machen sollen: Der Metallring von etwa drei bis vier Zentimetern Durchmesser! Wozu braucht ein Schneckenfänger ein solches Utensil, falls es ihm überhaupt gehört hat? Wozu? INTERPOL steht vor einem Rätsel. Das mysteriöse »Ding« wird in verschiedenen Maßstäben auf Millimeterpapier gezeichnet, dann fotografiert, von oben, von unten und von allen Seiten, ringsherum. Aber ein Ring bleibt ein Ring. Also schickt das Pariser Generalsekretariat die neue Akte zum B.N.C. Zürich, mit allen erdenklichen Unterlagen und mit einem langen Telex dazu, das man so zusammenfassen könnte: »Was ist das?«
Der Schweizer Humor hält sich bekanntlich in Grenzen — nicht aber die legendäre Genauigkeit der Eidgenossen. Zürich antwortet nicht etwa: »Der Gegenstand ist ein Metallring mit einem Durchmesser von 35 Millimetern« — was die Franzosen eigentlich in mühsamer Kleinarbeit schon herausgefunden hatten. Nein. In Zürich wird noch ernsthafter nachgedacht, noch akribischer nachgeforscht, so, als handle es sich um die Quadratur des »Ringes«!
Spaß beiseite — man muß hier wirklich neidlos die faszinierende Logik bewundern, mit der die Ermittlungen der internationalen Polizei durchgeführt werden, wenn sie einmal ein so hohes Niveau erreichen!
Die ersten Untersuchungen des »Dinges« zeitigen drei Gutachten, die zum INTERPOL-Generalsekretariat nach Paris weitergeleitet werden. Das erste Gutachten ist für die Abteilung »D« bestimmt, also für die Etage, die sich normalerweise ausschließlich mit »Personenschaden« beschäftigt. Das zweite Gutachten kommt zur Abteilung »C«. Diese ist für »Sachschaden und illegalen internationalen Handel« zuständig. Das dritte Gutachten gelangt schließlich zu der Abteilung »Kriminalistische Dokumentation«. Mit dem »Ding« hatte sie zuerst auch nichts anfangen können, und im Pariser Hauptquartier von INTERPOL wurde eine Unterabteilung gegründet — einzig und allein damit beauftragt, das Rätsel um das Ding, den Ring, zu lösen.
Hier nun der wortgetreue Text dieses dritten Gutachtens, das unsere Hochachtung verdient. Ein Dokument historischer Tragweite... mit Verlaub:
Erstens: Der Gegenstand ist ein Lehrring, bestimmt zur Messung der Schneckengröße. Jede Schnecke, die durch diesen Meßring paßt, steht unter Tierschutz und darf nicht gefangen werden.
Zweitens: Dieser Lehrring entspricht den offiziellen Normen, die in einigen schweizerischen Kantonen Vorschrift für Schneckenfänger sind.
Drittens: Jeder Schneckenfänger mit festem Wohnsitz im Kanton Vaux muß einen solchen Ring besitzen,
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