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Ein Alptraum für Dollar

Ein Alptraum für Dollar

Titel: Ein Alptraum für Dollar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Bellemare
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vorbeirollen, denkt Heinrich nach, und immer wieder fragt er sich: »Was würde ich machen? Wie würde ich mich entscheiden? Zu welcher Seite würde ich gehören? Zu den dreihundert Männern, die es akzeptieren, ewig wie ein Stück Vieh zu leben, oder zu den fünfhundert, die endlich den Mut haben, den Bossen die Stirn zu bieten? So wie mein Vater.
    Am Abend hockt der Vater — wie jeden Abend seit Heinrich denken kann — am Ende des langen, blankgescheuerten Brettes, das ihnen als Tisch dient. Er schweigt, so wie immer. Und er schlürft auch seine dicke Mehlsuppe hinunter wie Heinrich. Heute ist die Stille aber ganz anders als sonst. Immer wieder wirft Heinrich verstohlene Blicke auf seinen Vater, wagt jedoch nicht, ihn anzusprechen. Bei diesen Leuten, da redet man nicht einfach so. Herr Zuber, der die Blicke seines Sohnes spürt, wundert sich und ahnt, daß irgend etwas in der Luft liegt. Was ist los mit dem Jungen? Gab’s Probleme in der Fabrik? Hat er vielleicht Liebeskummer? Na ja, mit fünfzehn, schon möglich! Einen Augenblick lang kreuzen sich die vielsagenden, stummen Blicke von Vater und Sohn. Sie schauen sich an, als würden sie sich heute zum ersten Mal sehen.
    Nach einer Weile murmelt der Vater, nur so, um die bedrückte Stimmung am Tisch aufzulockern:
    »Geht’s dir gut, Junge?«
    »Ja... ja.«
    »Ist die Arbeit nicht zu hart für dich?«
    Heinrich möchte reden. Aber als er die flehenden Augen seiner Mutter sieht, bleiben ihm die Worte im Hals stecken. Ja, bei diesen Leuten, da redet man nicht. Selbst die drei kleinen Geschwister haben früh gelernt zu schweigen und sitzen stocksteif am Tisch, erdrückt von der knisternden, bewegten Stille.
    Als Heinrich doch noch antwortet, erschrecken alle, obwohl er nur ein einziges Wort sagt. Aber so laut, als hätte der Blitz eingeschlagen:
    »Nein!!«
    »Ich dachte nur... Dann ist es ja gut.«
    Und der Vater versinkt wieder in seine eigene, einsame Welt, die vor ihm auf dem Tisch aufgeschlagen ist: die »Arbeiter Zeitung«.
    Die Kleinen werden ins Bett geschickt. Die Mutter räumt auf und geht auch bald schlafen. Heinrich bleibt sitzen. Jetzt ist er endlich allein mit seinem Vater, jetzt wird er mit ihm reden.
    Eine halbe Stunde vergeht — und keiner der beiden Männer traut sich, das Gespräch anzufangen. Der Vater, weil er seinen Sohn nicht bedrängen will, und der Sohn, weil er nicht weiß, wie er es anstellen soll. Es ist nicht leicht, zum ersten Mal mit einem Vater zu reden, den man jahrelang verachtet hat, weil er sich »um Dinge kümmert, die ihn nichts angehen« und nicht einmal fähig ist, seine Familie zu ernähren!
    Dieses stumme Gegenübersitzen bringt nichts, also steht der Vater auf, faltet sorgfältig seine Zeitung zusammen, legt sie auf die Bank und geht schlafen. Heinrich hat zwei
    Tage lang geschuftet und die Nacht davor kein Auge zugetan, aber er ist viel zu aufgewühlt, um die Müdigkeit zu spüren. Fast ängstlich, als würde er ein Heiligtum entweihen, nimmt er die Zeitung und entziffert mit Mühe den fettgedruckten Titel auf der ersten Seite: »An alle Arbeiter! Samstag, 19 Uhr, Haymarket! Kommt alle!« Am nächsten Abend, nach der Arbeit, geht Heinrich nicht nach Hause. In einer Stunde findet die Arbeiterversammlung statt — und er hat sich entschlossen, hinzugehen. Ein paar Kameraden vom Schlachthaus folgen ihm, die wenigen mutigen Männer, die bei der Rede geklatscht haben... »man kann doch nicht ewig wie ein Stück Vieh leben...«
    Die Gewerkschaftsversammlung dauert lange, und Heinrich versteht nur wenig von all den politischen Reden. Auf einmal legt sich eine Hand auf seine Schulter. Er braucht sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wem sie gehört. Es ist dieselbe kraftvolle Hand, die ihn vor langen Jahren in Deutschland am ersten Schultag ins Klassenzimmergeführt hat. Dieselbe beruhigende Hand, die ihn vor sechs Jahren bei dem Sturm auf der Überfahrt nach Amerika festgehalten hat. Wie gut es tut, sie jetzt wieder zu spüren, in diesem Augenblick, wo Heinrich langsam erwacht und zu begreifen beginnt, daß »Mensch sein« gelernt werden will!
    »Ist alles in Ordnung, mein Junge?«
    Wie am Abend zuvor bringt Heinrich auch jetzt kein Wort heraus. Und so stehen sie beide schweigend Seite an Seite, bis die Haymarket-Versammlung vorbei ist. Später zu Hause, bevor sie zu Bett gehen, schließt der Vater den jungen Mann in seine Arme und sagt nur: »Glaub mir, mein Sohn, diesen Tag wird man niemals vergessen! Schlaf gut.«
    Schon am

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