Ein Alptraum für Dollar
entlang. Ein aufgeregter Bauer, der die Gegend wie seine Hosentasche kennt, kriecht vor ihm her und bemüht sich, dem Ordnungshüter den Weg freizumachen, so gut es eben geht:
»Hierher Monsieur l’Brigadier! Es ist nicht mehr weit! Wenn’s stimmt, was die Schweizer sagten, dann sind wir gleich da.«
Plötzlich schreit der Bauer:
»Brigadier! Da liegt er, ich hab ihn!«
Eine schöne Leiche. Mitten auf der Stirn ein sauberes kleines Loch. Nur wenig Blut. Und auch schon getrocknet. Der tote Mann trägt Gummistiefel, eine abgewetzte Hose und einen betagten Pullover mit einem Anorak darüber. Der Brigadier braucht nicht lange, um die Identität des Erschossenen festzustellen. Aus der Tasche holt er die Papiere heraus: Marcel Adolphe Jules Vivien, 43 Jahre alt, in Belfort geboren. Es ist auch ganz einfach festzustellen, was der Mann hier gesucht hat: Ein paar Meter von der Leiche entfernt steht ein Eimer, und daneben liegt ein Deckel mit vielen kleinen Löchern — also Schnecken!
Ein kleiner Gegenstand liegt auch in der Nähe herum, eine Kleinigkeit, die den Brigadier stutzig machen würde, wäre er nicht nur gewissenhaft, sondern auch pedantisch: Es handelt sich um einen ganz gewöhnlichen Metallring mit einem Durchmesser von etwas drei bis vier Zentimetern. Für die Spurensicherung völlig uninteressant! Das Gewehr bereitet dem Polizisten viel mehr Kopfzerbrechen. Wo steckt es nur? Na gut, er will später einige Gendarmen zum »Tatort« schicken, sie sollen danach suchen. Im Augenblick steht er vor einer anderen, unangenehmen Aufgabe. Er muß die Witwe besuchen und ihr die traurige Nachricht überbringen.
Bald klopft er also an die Scheibe des klapprigen Lieferwagens, in dem die Familie Vivien haust. Die Gattin des Schneckenjägers ist im ganzen Dorf berühmt — von vielen begehrt, von den anderen verachtet. Jeder weiß nämlich, daß auch sie gerne auf Jagd geht. Bei ihr muß es immer husch-husch gehen, so zwischendurch, wenn ihr Mann gerade mit seinem Eimer unterwegs ist.
Als der Brigadier ihr — zwecks Identifizierung — die Leiche ungerührt vorführt, wirft sich Madame Vivien verzweifelt auf den Toten und weint bitterlich. Doch der Brigadier läßt sich keineswegs von den Krokodilstränen beeindrucken und fragt ungeduldig:
»Wann ist Ihr Mann heute früh weggegangen?«
»Um... so um sieben herum...«
»Hatte er sein Gewehr bei sich?«
»Ja, er nimmt es immer mit. Nicht für die Schnecken, aber...«
»Was Sie nicht sagen! Wir haben das Gewehr aber bei ihm nicht gefunden. Sie erlauben doch, daß ich mich etwas bei Ihnen umsehe, ja?«
Und schon wühlt der Brigadier in dem Lieferwagen, er wittert nämlich ein Familiendrama und ist im Grunde genommen jetzt schon überzeugt, die Mörderin vor sich zu haben. Sie hat geschossen und das Gewehr versteckt, um einen Mord vorzutäuschen!
Aber das Gewehr ist nirgendwo zu finden. Und außerdem kann Madame Vivien ein felsenfestes Alibi vorweisen: Sie hat den ganzen Tag lang ihre zwei Kinder keine Minute allein gelassen — beide haben Masern. Und beide sind alt genug, dem Brigadier glaubwürdige Antworten zu geben.
Selbstmord?
Wenn man davon absieht, daß seine Frau ihn dreimal in der Woche betrog, daß die Kinder unterernährt und oft krank waren, daß er keinen Centime mehr hatte und bis über beide Ohren in Schulden steckte, daß er nirgendwo im Dorf mehr Kredit hatte und schließlich, daß der Bürgermeister am Tag vorher unmißverständlich verlangt hatte, er solle endlich mit seiner schäbigen Behausung verschwinden... ja, von all dem abgesehen war alles in bester Ordnung. Kein Grund, sich das Leben zu nehmen — meint jedenfalls der Brigadier. Aber andersrum, wer sollte diesen harmlosen, armseligen Schneckenjäger ermorden? Und vor allem — weswegen?
Am nächsten Tag wird bei der Autopsie im gerichtsmedizinischen Institut die tödliche Kugel entfernt. Und auch das Gewehr taucht endlich auf, es war im Fluß, zwischen Frankreich und der Schweiz. Ein einziger Schuß wurde damit abgegeben — aber die Kugel, die Jules tötete, ist nicht mit seiner eigenen Waffe abgefeuert worden! Sie hat ein anderes Kaliber. Jetzt ist es sicher: Es war Mord! Allmählich dämmert es den scharfen Köpfen der französischen Polizei, und es stellt sich die Frage, ob es vielleicht nicht doch angebracht wäre, diesen Fall zusammen mit den Schweizer Kollegen zu bearbeiten. Der Bürger Jean-Louis Vervier müßte mit etwas mehr Nachdruck verhört werden. Schließlich ist er der
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