Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
Vom Netzwerk:
Flieder.»
    « Dann hat nicht sie ihn gebracht», dachte er und antwortete errötend, ja, er finde, sie hätten den schönsten Duft von allen ihm bekannten Blumen, aber er sei noch nicht unten gewesen, Upton müsse ihn gebracht haben, während er geschlafen habe.
    Er hatte den Eindruck, dass auch Mrs Tracy ein wenig errötete, er las etwas wie Erstaunen in ihren Augen.«Ja, vielleicht», bestätigte sie, glitt auf ihren weichen Sohlen davon und ließ ihn mit seinem späten Kaffee allein.

    Der Tag verstrich ereignislos. Obwohl er lange geschlafen hatte, verspürte Vance noch immer die Müdigkeit des Genesenden und Aufregung über die neue Umgebung. Auch Enttäuschung, das Gefühl, um Erhofftes betrogen worden zu sein, zerrte an seinen strapazierten Nerven und raubte ihm fürs Erste allen Unternehmungsgeist, sodass er nach dem Essen gern Mrs Tracys Angebot annahm, sich auf der hinteren Veranda in der Hängematte auszustrecken.
    Upton war zum Essen heimgeeilt, da die Gärtnerei, in der er arbeitete, nicht weit weg lag; Laura Lous Platz hingegen blieb leer. Mrs Tracy erklärte, normalerweise komme sie zum Mittagessen aus der Schule, heute sei sie aber bei einer Freundin eingeladen und kehre erst am Abend zurück.
    Uptons Schüchternheit hatte sich verloren, und er erzählte eifrig von seiner Arbeit; sein Chef züchtete Gladiolen und experimentierte mit Kreuzungen zwischen japanischen und europäischen Baumpäonien 16 . Mrs Tracy begriff von alldem offenbar gar nichts; wie Vance bemerkte, verfügte sie über einen gewissen Vorrat an Fragen für beide Kinder und hatte gelernt, Upton nach seinen gärtnerischen Experimenten und Laura Lou nach ihrem Unterricht zu fragen, ohne die Antworten zu verstehen oder auch nur so zu tun, als verstünde sie sie. Sie kam Vance vor wie eine Frau, die ihr Leben lang unter Menschen gelebt hat, deren Sprache sie nicht spricht, sich aber wie eine Taubstumme durch Zeichen mit ihnen verständigt und dabei aufmerksam ihre materiellen Bedürfnisse befriedigt.
    Da sie Vance in der Hängematte untergebracht wusste, verschwand sie mit einer schmuddeligen Nachbarin, die ihr bei der Wäsche half, und Vance lag im warmen Schatten und döste oder ließ seine Gedanken über seine halb fertigen Gedichte schweifen. Aber zurzeit geschah immer das Gleiche, wenn er Gedichte schreiben wollte: Nach den ersten Zeilen, die sich fast von selbst schrieben, erstarb die Inspiration, oder vielmehr, er hatte das Gefühl, dass er nichts mehr zu sagen wusste – dass die Wörter sich von selbst eingefunden hätten, wenn sein Kopf einen größeren Erfahrungsschatz enthalten hätte. Denn man brauchte offenbar eine Menge Erfahrung, um über hinreichend Stoff für ein paar Gedichtzeilen zu verfügen; und obwohl er nie zugegeben hätte, dass er noch nicht viel erlebt hatte, war ihm doch bewusst, dass er erst neunzehn war und noch keine Zeit gehabt hatte, haufenweise Erfahrungen zu sammeln. Er beendete das Gedicht über Magdalena mit dem Flieder, wenn auch stockend, die Ausdruckskraft verblasste mit dem Bild – und als er fertig war, lehnte er sich zurück, zündete sich eine Zigarette an und dachte lächelnd daran, was seine rastlose, wissbegierige Schwester Mae dazu gesagt hätte, wie er den ersten Tag in Reichweite von New York verbrachte.«Na ja, ich komme trotzdem dorthin und auch in eine Zeitungsredaktion», dachte er verbissen und mit letzter Anstrengung, bevor ihn erneut der Schlaf übermannte.
    Beim Abendessen kam Laura Lou wieder zu spät. Sie trug ein verschossenes gelbes Musselinkleid, das ihr gut stand; sie wirkte erregt und lebhaft, beteiligte sich aber nicht mehr am Gespräch als tags zuvor. Mrs Tracy sah müde aus und mutloser denn je – das kam sicher vom Waschtag, vermutete Vance. Als sie sich nach dem Abendessen auf die Veranda begaben, erklärte sie, sie wolle früh zu Bett gehen, ob Upton auch daran denke, in der Diele das Licht auszumachen und die Kette vorzulegen, bevor sie nach oben gingen? Upton versprach es, und Mrs Tracy rief noch einmal durchs Fenster des Esszimmers, wo sie den Tisch abräumte, ohne dass ihr eines der Kinder half:«Vergiss nicht, Upton, morgen ist Samstag, der Tag für The Willows.»
    « In Ordnung, Mutter, ich vergesse es nicht.»
    « Das sagst du immer, und dann kommst du Stunden zu spät zum Essen», antwortete seine Mutter nervös.«Es würde mich nicht wundern, wenn Miss Halo morgen selbst auftauchen würde», fügte sie besorgt hinzu.
    « O nein, nicht bei dieser

Weitere Kostenlose Bücher