Ein altes Haus am Hudson River
Geistesregungen berechnen und den unvermeidlichen Ablauf seines Handelns vorhersagen konnte. Denn eigentlich lag ihr nichts mehr daran … Sie wäre ganz froh gewesen, wenn sie das nicht mehr benötigte Geschenk an Mrs Pulsifer hätte weiterreichen können; und als eines Tages Mrs Spear nach verschiedenen vorsichtigen Annäherungsversuchen mütterlich den Arm um sie legte und ganz behutsam fragte:«Liebling, ist dir nie der Gedanke gekommen, dass sich Lewis etwas zu oft mit Jet Pulsifer sehen lässt?», da war Halo in hysterisches Gelächter ausgebrochen und hatte ihre verdutzte Mutter ans Herz gedrückt …
Aber nein. Auf diesem Weg gab es kein Entrinnen. Lewis brauchte sie noch immer, und sie wusste das. Mrs Pulsifer befriedigte seinen gierigen Egoismus, aber Halo organisierte sein Leben, und das war wesentlich wichtiger. Eines Tages vielleicht … Doch sie schüttelte diese verführerische Vision ab. Penny um Penny, Stunde um Stunde zahlte sie noch immer die Schuld ab, die sie übernommen hatte, nachdem ans Licht gekommen war, dass ihre Familie in der Zeit seines Werbens heimlich und schamlos Geld von ihm geliehen hatte. Und seit damals war die Schuld schneller gewachsen, als sie sie abtragen konnte. Das behagliche und sorgenfreie Leben, das er Mr und Mrs Spear verschaffte, seit er ihr Schwiegersohn geworden war, der Friede und die Sicherheit, die er ihnen durch seine üppigen Zuwendungen garantierte – wie viele Jahre ehelicher Hingabe und Treue waren vonnöten, um eine solche Schuld zu tilgen?
Müßig über all dies nachsinnend, saß sie allein da und wartete darauf, dass ihr Mann zurückkehrte und mit ihr zu Tisch ging. Sie hatte mehrere Einladungen für den heutigen Abend abgelehnt, weil sie angenommen hatte, Lewis werde auswärts essen (wie an den meisten Abenden in letzter Zeit), und törichterweise gehofft hatte, Vance Weston werde sie besuchen …
Bestimmt hatte sich der arme Junge mittlerweile beruhigt; es wäre nicht mehr gefährlich, ihn zu empfangen, und sie wollte unbedingt mehr von seinem Roman hören. Ihre Anteilnahme, so sagte sie sich immer wieder, war rein intellektueller Natur; sie war leidenschaftlich in seinen Geist verliebt. Schade, dass er das nicht begriffen und versucht hatte,«das andere»mit ihrer beider geistigem Überschwang zu vermischen. Und dennoch … Nein, natürlich wollte sie nicht, dass er sie liebte; aber hätte es sie nicht gekränkt, wenn er sie ewig nur als körperlose Intelligenz gesehen hätte? Sie musste ehrlich zugeben, dass sie die närrische Szene an jenem Abend nicht ungeschehen machen wollte, und der Moment, an den sie sich am hartnäckigsten erinnerte, war der verzweifelte Schrei des Jungen:«Ich will dich küssen …»
Doch was für eine Narrheit! Wenn sie ihm wirklich bei seiner Arbeit helfen wollte, mussten sie diese anderen Gedanken natürlich beiseiteschieben und vergessen. Und sie wollte ihm so gern helfen, es war ihr ein Herzensanliegen und inniges Verlangen. Der Gedanke daran vertrieb ihr die einsamen Stunden, erfüllte ihr leeres Leben – oder erfüllte es beinahe. Und sie hoffte, dass er das gleiche Verlangen empfand, das gleiche dringende Bedürfnis, und bald wiederkam, um mehr Gemeinschaft, mehr Ermutigung zu erfahren… Vielleicht hatte sie ihn an jenem Abend nicht genug ermutigt – das heißt, hinsichtlich seiner Arbeit. Man durfte nicht vergessen, dass Schriftsteller, selbst die ernsthaftesten und klügsten, nervös, reizbar und unsicher waren. Die leiseste Kritik erschütterte sie bis ins Mark. So gesehen (sie lächelte) wäre Tarrant sicher ein würdiges Mitglied dieser Bruderschaft. Aber die Empfindlichkeit des armen Vance war von anderer Art, sie war das Ergebnis von Unerfahrenheit und Bescheidenheit. Darunter spürte sie stets das undeutliche Bewusstsein seiner Kraft; seine Zweifel betrafen wohl nur seine Fähigkeit, dieser Kraft angemessen Ausdruck zu verleihen. Sie sah ihn geradezu vor sich, wie er dereinst als ruhmreicher Meister die Feder hinwerfen und wie einer seiner großer Vorgänger ausrufen würde:«Mein Gott – das ist genial!» 99
So sann sie träumerisch und in tugendhafter Glückseligkeit vor sich hin, als Tarrant auftauchte und wie immer nervös sagte:« Bin ich etwa zu spät? Bitte warte noch ein paar Minuten mit dem Dinner, ja?»Und jetzt kam er frisch aus dem Ankleidezimmer, geschniegelt und gestriegelt, körperlich wiederhergestellt, aber nervlich am Ende und offenbar trostbedürftig … Lebwohl, tugendhafte
Weitere Kostenlose Bücher