Ein altes Haus am Hudson River
Zimmer, in das sie ihn führte, war düsterer als das andere, teils weil die Glyzinie eine lange Girlande über eines der Fenster wand, teils wegen der dunklen Wände und der hohen, wuchtigen Bücherschränke. In einem Erkerfenster stand ein Tisch mit einer Samtdecke, deren verblasste Falten und mottenzerfressene Fransen bis zum Boden hingen. Auf ihm befanden sich ein imposantes Tintenfass, eine Bronzelampe mit einem gravierten Glaszylinder, ein Handarbeitskorb und ein paar Bücher. Doch was Vance verblüffte und ihn vor Staunen alles andere vergessen ließ, war die Tatsache, dass eines der Bücher aufgeschlagen war und quer über den Seiten eine kleine, seltsam geformte Brille mit einer dünnen goldenen Fassung lag. Es sah aus, als habe hier noch vor wenigen Minuten jemand gelesen, habe, gestört durch das Geräusch von Schritten, Buch und Brille sinken lassen und sei außer Sichtweite geschwebt. Vance dachte an Laura Lous Angst vor Gespenstern und blickte sich fast ein wenig furchtsam um, als könnte der Leser dieses Buches, der Besitzer dieser Brille, aus einer düsteren Zimmerecke zu ihnen herüberlugen.
Dabei fiel sein Blick auf ein Bild über dem Kaminsims, eine Kreidezeichnung, wie er vermutete, in einem schweren, vergoldeten Rahmen. Es war das Porträt einer Frau in mittleren Jahren, ein Kniestück. Sie lehnte an einem Tisch mit einer schweren Samttischdecke, einem Tintenfass und mehreren Büchern – eben dem Tisch und dem Tintenfass, auf die das Bild herniederblickte. Die Dame war zweifelsohne Miss Lorburn: Miss Lorburn im besinnlichen mittleren Alter. Das dunkle Haar teilte sich in schweren Wellen über einer breiten, nachdenklichen Stirn, die mit ein paar Kreidestrichen weiß gehöht war. Ihr Gesicht war lang und melancholisch. Die Zipfel der Spitzenhaube fielen ihr auf die Schultern, und aus den weiten Ärmeln einer dunklen Jacke ragten dünne Arme in Unterärmeln aus weißem Batist hervor, ebenfalls mit Kreide abgesetzt.
Noch nie hatte Vance etwas gesehen, das diesem sonderbaren Kleid, diesem traurigen Gesicht geglichen hätte, doch er spürte sofort, dass beides mit all dem Sonderbaren, Ungewohnten in diesem Haus eng verwoben war. Vergangenheit … das alles gehörte der Vergangenheit an, diese Frau und ihr Haus, sie hatten dieselbe, nur ihnen eigene Vergangenheit, weit weg von allem, was Vance Weston je erlebt hatte, niedergeschrieben auf den Seiten eines Geschichtsbuches aus dunkler, unbekannter Zeit, ehe Euphoria ward. Er starrte unverwandt zu der traurigen Frau hoch, die mit großen, runden Augen auf ihn herniederblickte, als hätte sie soeben, bei seinem Erscheinen, Buch und Brille hingelegt und wäre in ihren Rahmen zurückgestiegen.
Es kam nicht überraschend, dass Laura Lou hinter ihm sagte:« In diesem Buch hat sie gelesen, als sie starb. Mr Lorburn, der Neffe, will nicht, dass wir in diesem Raum etwas anrühren, nicht einmal beim Abstauben. Wir müssen alles abstauben, ohne es zu verschieben.»
So lange hatte er Laura Lou noch nie am Stück reden hören, doch jetzt hatte er kein Ohr dafür. Er nickte, und sie ging auf Zehenspitzen mit ihrem Staubwedel davon. In weiter Ferne hörte er Upton in seinen schweren Gartenschuhen über die Intarsienböden trampeln und Türen und Fensterläden öffnen. Laura Lou rief nach ihm, und beider Stimmen verzogen sich in einen abgelegenen Teil des Hauses.
Vance stand allein in Miss Lorburns Bibliothek. Er war noch nie in einer Privatbibliothek gewesen; eigentlich wusste er nicht einmal, dass es außerhalb von Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen Büchersammlungen in privatem Besitz gab. Und all diese Bücher hatten einer Frau gehört, dieser Miss Lorburn, und sie hatte zwischen ihnen gesessen, hatte mit ihnen gelebt und war beim Lesen gestorben – beim Lesen von eben jenem Buch auf dem Tisch neben ihm! Das alles schien Teil der unbegreiflichen Vergangenheit, zu der sie und das Haus gehörten, einer so fernen, schwer fassbaren und geheimnisvollen Zeit, dass Vance’ erster Gedanke war:«Warum hat mir nie jemand etwas über die Vergangenheit erzählt?»
Er wandte sich von dem Bild ab, sah sich im Zimmer um und versuchte sich vergebens auszumalen, wie diese Frau allein in ihrem düsteren Haus mit den hohen Zimmerdecken zwischen ihren Büchern gelebt haben mochte. Er stellte sie sich an Winterabenden vor, wenn sie an diesem Tisch saß, vor der Öllampe mit dem gravierten Glaszylinder, die komische kleine Brille auf der langen, würdevollen Nase,
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