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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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fragen.
    « Hat er noch viel anderes geschrieben?», wollte er wissen.
    Sie stand neben dem Tisch, stützte sich leicht mit der Hand auf und blickte leise lächelnd auf ihn nieder.«Ja, leider.»
    « Leider?»
    « Weil nur sehr wenig so gut geworden ist.»Ohne das Buch in die Hand zu nehmen oder auf die Seite zu blicken, fuhr sie fort:
    « Doch oh!, die tiefe Schlucht durch Zedernhaine
So schaurig in den grünen Berg geschlagen!» 20
    Vance lauschte gebannt. Wenn ihre volle Stimme die Worte formte, verlieh sie ihnen eine neue Tiefe. Er ahnte, dass ihre Art zu sprechen anders war als alles, was er je gehört hatte, aber er stand zu sehr im Banne dessen, was sie sagte, um darauf zu achten, wie sie es sagte. Gebieterisch befahl er:«Weiter!», und sie neigte sich ein wenig zu ihm und ließ die Silben leise und behutsam wie Blütenblätter fallen:
    « Ein Maidlin, das die Saiten schlug,
Einst in einem Traum ich sah …» 21
    Vance lehnte sich zurück und lauschte mit angehaltenem Atem und halb geschlossenen Augen.«Honigtau … Honigtau …», murmelte er, als sie geendet hatte, und meinte, ohne dass es ihm recht bewusst wurde, ihre Stimme.
    Sie ließ sich auf einen Stuhl neben ihm fallen und sah ihn nachdenklich an.«Komisch, dass du dir so viel aus Dichtung machst und nie auf das hier gestoßen bist.»
    Er errötete, betrachtete sie zum ersten Mal bewusst und sah in ihr den Fremdling, den Eindringling in seinen Traum. Der Blick bestätigte seinen Eindruck, dass sie sehr jung war, wenn auch wahrscheinlich zwei oder drei Jahre älter als er selbst. Aber vielleicht hielt er sie nur für älter, weil sie so groß und selbstbewusst war. Sie hatte dunkelgraue, dicht bewimperte Augen, und ihre Gesichtszüge waren im Ruhezustand etwas zu lang und hager, wurden aber runder und heller, wenn ihr bei plötzlichem Mitgefühl oder Vergnügen ein Lächeln übers Gesicht huschte. Jetzt bemerkte Vance Vergnügen und antwortete schroff:«Wenn Sie mich kennen würden, wüssten Sie, dass es vieles gibt, auf das ich nie gestoßen bin.»
    « Das glaube ich gern», pflichtete sie ihm freundlich bei.« Aber ich könnte auch auf den Gedanken kommen, dass du wahrscheinlich zu jung bist, um vom ‹Alten Seemann› gehört zu haben.»
    « Coleridge? Der mit dem ‹Alten Seemann›? War das der Gleiche, der dies hier geschrieben hat?»
    Sie nickte.«Du kennst also den ‹Alten Seemann›? Vermutlich aus dem Lesebuch für die sechste Klasse – oder aus dem College?»Sie lachte ein wenig.«Was man eben so lernt.»
    Er unterbrach sie verärgert.«Was habe ich denn gesagt, dass Sie so lachen müssen?»
    « Nichts. Ich habe nicht über dich gelacht, sondern über die Klugheit der Erzieher in unserem Land – nein, Pädagogen nennen sie sich wohl heutzutage –, die es fertigbringen, den herrlichsten Schätzen allen Glanz zu nehmen, indem sie sie jungen Wilden vorwerfen. Dir haben sie zum Beispiel den ‹Alten Seemann› verleidet.»Sie sah ihn immer noch prüfend an.«Du bist kein junger Wilder – aber vieles hat für dich auf diese Weise seinen Glanz verloren, nicht wahr?»
    « Mag sein, ja, einiges.»
    « Nicht, dass das eine Rolle spielte – für dich. Du holst dir den Glanz zurück. Aber ich verabscheue die Vorstellung von verstümmelter Schönheit.»
    Verstümmelte Schönheit! Wie kostbar diese Worte auf ihren Lippen klangen – als fege sie den Staub der Jahrhunderte von einer zerborstenen Statue, edel noch im Verfall! Vance blickte sie unverwandt an, geistesabwesend und dennoch aufmerksam. Er hatte sie in seinen Traum hineingezogen.
    Doch sie stand auf und schob den Stuhl beiseite.«Und jetzt», sagte sie fröhlich und mit verändertem, hellem, humorigem Ton,« erklärst du mir vielleicht, wer du bist und wie du hierhergekommen bist.»
    Die Frage schien ihm von so weit her zu kommen, dass er sie verdutzt anstarrte, bevor er antwortete.«Ich – oh, ich bin nur ein Vetter von den Tracys. Ich wohne bei ihnen. Sie sind hier irgendwo und stauben die anderen Zimmer ab.»
    Ihr Blick wurde freundlicher.«Ach, du bist der Vetter aus dem Westen, der krank gewesen und zur Luftveränderung nach Paul’s Landing gekommen ist? Mrs Tracy hat mir von dir erzählt – nur dein Name fällt mir nicht mehr ein.»
    « Vance Weston.»
    « Ich heiße Héloïse Spear. Man nennt mich Halo. Name und Spitzname sind beide gleich lächerlich.»Sie streckte die Hand aus.«Und du hast der armen, alten Cousine Elinor einen Besuch abgestattet? Solche Aufmerksamkeit wird ihr

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