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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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geschoben hatten, dämpften ihre Schritte. Als das Haus endlich ohne den schwankenden Weidenvorhang vor ihnen aufragte, merkte Vance, dass es kleiner war, als er gedacht hatte; dennoch blieb der Eindruck von Traum und Geheimnis bestehen. Alles an dieser Hausfront war unregelmäßig, aber von einer fremdartigen Unregelmäßigkeit. Die mit Läden verschlossenen Fenster waren hoch und schmal, schmal auch die von geschnitzten Holzkonsolen gestützten Balkone, die in seltsamen Winkeln herausragten. Eine Hausecke mündete in einen Turm mit einem steilen, geschindelten Dach und Spitzbogenfenstern, offenbar eine Reminiszenz an die Schalllöcher in einem Glockenturm. Ein schräges Dach über der Eingangstür ruhte ebenfalls auf reich verzierten Stützbalken, und zu beiden Seiten der Treppe standen riesige Urnen aus geriffeltem Eisen, die so bemalt waren, dass sie wie aus Stein wirkten, und in denen halb tote Geranien ihr Dasein fristeten.
    Während Upton die Haustür aufsperrte und mit seiner Schwester hineinging, schlenderte Vance zur Rückseite des Gebäudes. Hier erwartete ihn ein noch merkwürdigerer Anblick. Eine Veranda mit Bögen zog sich quer über das ganze Haus, und an ihr entlang wand eine Glyzinie ihre riesigen, verdrehten Zweige wie rheumatische Arme von einer Konsole zur andern, von einem Balkon zum nächsten, bis zu den Dachrinnen hinauf, und schmückte emporwachsend alles irgendwie Hervorstehende mit Girlanden aus langen bläulichen Fransen – als ob eine Horde uralter Affen den Befehl erhalten hätte, hinaufzuklettern und die Fassade für die Ankunft einer Majestät zu dekorieren, dachte Vance. Er hatte noch nie so üppige Blüten oder eine so verkrüppelte alte Pflanze gesehen, und für einen Moment lenkte ihr Anblick ihn vom Haus ab. Aber nicht lange. Wenn es einer so alten Kletterpflanze Halt gab, musste das Haus selbst noch älter sein, und seine Jahre, sein Geheimnis und sein Schweigen legten sich ihm schwer aufs Herz. Er erinnerte sich, dass er in Euphoria einmal nachts aufgewacht war – was ihm selten passierte – und gehört hatte, wie die Glocke der römisch-katholischen Kirche langsam und feierlich die Stunde schlug. Er sah diese Kirche jeden Tag auf dem Schulweg: Ein engbrüstiges Gebäude aus rotem Backstein mit sandsteinumrahmten Fenstern und einem Sandsteinkreuz im Giebel, und obwohl er die Glocke schon hundertmal gehört hatte, hatte ihr Klang ihn nie berührt. Erst als sie damals durch die Stille der Nacht erklang, die einzige Wachende in der schlafenden Stadt, sprach sie zu seiner Schlaflosigkeit, erschütternd und geheimnisvoll.
    Dasselbe Gefühl überkam ihn jetzt, als er in dem hohen Gras vor dem verlassenen Haus stand. In dessen Alter und Leere spürte er etwas von dem geisterhaften Wohlklang der Kirchenglocke – als berge es in seinen stummen Mauern eine ebenso geheimnisvolle, überwältigende Stimme. Wenn er nur wüsste, wie man am Seil zog und den Klöppel zum Schwingen brachte!
    Während er so dastand, wurden im Erdgeschoss an einem Fenster die Läden aufgestoßen; Upton lehnte sich hinaus und rief ihm zu:«Haaal-lo! Laura Lou hat schon gedacht, dich hätten die Gespenster geholt.»
    « Ja, fast», lachte Vance. Er ging zum Fenster und schwang sich ins Zimmer. Upton hatte alle Läden geöffnet, und das Nachmittagslicht flutete sanft herein. Der Raum war nicht groß, hatte aber eine hohe Decke mit einer verblassten, spinnwebverhangenen Randleiste. Auf dem Boden lag ein Teppich mit einem Muster aus großen Blumenkränzen, Bögen und Schleifen aus verblasstem Grün. Den aufwendig gemeißelten Kaminsims krönte ein Spiegel, der bis zur Decke reichte, und überall standen Möbelstücke aus poliertem schwarzem Holz mit Intarsien aus Ebenholz oder Metall. Auf Sims und Tisch gab es große Vasen, bemalt mit Landschaftsmedaillons oder behangen mit üppigen Kränzen wie solchen auf dem Teppich. Auf dem Kaminsims bemerkte Vance eine Uhr mit rundem Zifferblatt, die von einem bronzenen alten Mann mit Sense und Stundenglas bewacht wurde, und im ganzen Zimmer verteilt standen steife Lehnstühle und Hocker mit einem blassen, vom Alter zerschlissenen, brüchigen Bezug. Während Vance alles betrachtete, kam Laura Lou aus einem der anderen Zimmer. Eine lange Schürze reichte ihr vom Kinn bis zu den Knien, um den Kopf hatte sie ein Handtuch gebunden, und in der Hand hielt sie einen großen Staubwedel.
    « Dort hat sie immer gesessen», flüsterte sie Vance zu und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Das

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