Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
Vom Netzwerk:
endlos über den Seiten grübelnd, während der Wind durch den Kamin heulte und der Schnee sich Schicht um Schicht auf den Rasen legte. Und wahrscheinlich saß sie auch an Sommerabenden hier – undenkbar, dass sie ins Freie hinausging –, saß im schrägen Licht, das so wie jetzt durch die Fransen des Blauregens fiel, stützte den traurigen Kopf auf und las und las …
    Sein Blick wanderte von den Reihen geschlossener Bücher in den Regalen zu dem einen, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Dieses Buch hatte sie gelesen, als sie starb – als uralte Frau und dennoch vor unermesslich langer Zeit. Vance ging zum Tisch und beugte sich über die aufgeschlagenen Seiten. Sie waren gelb und fleckig von der Feuchtigkeit, und auch die Schrift war seltsam, so eine hatte er noch nie gesehen. Er las:
    « In Xanadu hat Kubla Khan …»
    Oh, was für schöne, was für unglaubliche Worte! Was bedeuteten sie? Aber kam es denn darauf an, was sie bedeuteten? Oder ob sie überhaupt etwas anderes bedeuteten als unbeschreiblichen Wohllaut? Vance ließ sich in den hochlehnigen Sessel vor dem Tisch fallen, schob die Brille vom Buch und las weiter.
    « In Xanadu hat Kubla Khan
Ein stolzes Lustschloss sich erbaut
Wo Alph, das heil’ge Wasser, fließt
Durch Höhlen, die kein Mensch ermisst,
Tief in ein lichtlos Meer.»
    Das war ein neuer Klang, ihm völlig unbekannt, und dennoch schwangen die verborgenen Saiten seiner Seele sofort mit. Das war für ihn bestimmt – etwas, was aufs Innigste zu ihm gehörte. Was hatte er denn bisher schon von Dichtung gewusst? An seinem inneren Auge glitten die Verse vorüber, mit denen er aufgewachsen war: James Whitcomb Riley, Ella Wheeler Wilcox, Bliss Carmans«Songs from Vagabondia», abgedroschene alte Gedichte von Whittier und Longfellow im Lesebuch für die sechste Klasse, Lowells«Ode» – dort gab es einige schöne Stellen –, Whitmans«Pioneers»(auch gut, aber ein bisschen martialisch) 18 , und dann das neue Zeug, von dem er hie und da ein wenig in einer Zeitschrift erspäht hatte, im einen oder anderen Intellektuellenblatt (derlei bekam er allerdings selten zu Gesicht) oder in seiner Schulzeitung. Er hatte fest geglaubt, sich in der Dichtkunst auszukennen …
    Und jetzt das! Das war Dichtung, hier fing seine Seele Feuer, das verbarg sich hinter dem Wort«Dichtung», bei dem es in seinem Innern rauschte wie Flügelschlag. Er saß da, den Kopf zwischen den Händen, und las weiter, leidenschaftlich und gefesselt, und sein ganzes Wesen wurde von diesem mächtigen Fluss fortgerissen. Ihm fiel ein, dass er das Haus mit einer seit Langem stummen Glocke verglichen und sich gewünscht hatte, sie in wohlklingende Schwingungen zu versetzen, und siehe da: Jetzt schwang und klang die Glocke und umwogte ihn mit herrlichen Tönen wie die Wellen eines sommerlichen Meeres.
    Abgesehen von dieser inneren Musik war das Haus vollkommen still. Die Schritte und Stimmen von Cousin und Cousine waren verstummt. Selbst das Nachmittagslicht lag auf dem Buch wie festgezurrt. Wahrscheinlich saß er schon lange in dieser reglosen Verzückung da, als sich etwas in seiner Nähe rührte; er hob den Kopf und sah ein Mädchen in der Tür stehen und zu ihm herüberschauen.
    « Wer hat das geschrieben?», stieß er hervor und zeigte auf das Buch.
    Erst als er die Frage gestellt und seine eigene Stimme gehört hatte, kam ihm ihre Gegenwart als etwas Fremdes, Stoffliches zu Bewusstsein, etwas außerhalb seines Kopfes, ein Teil der vergessenen Welt der Wirklichkeit. Sie war jung, groß und blass und trug das dunkle Haar unter dem Schlapphut straff zusammengebunden. Sie hatte etwas an sich, das zu dieser Umgebung passte, sie dazugehören ließ, obwohl er sofort bemerkte, wie jung sie war, vermutlich nicht viel älter als er selbst. Aber was bedeuteten in diesem Augenblick Zeit und Raum?
    Keineswegs erstaunt, nur verhalten lächelnd, kam sie näher, beugte sich über das Buch und kniff wie kurzsichtig ein wenig die Augen zusammen.«Das? Na, Coleridge 19 natürlich.»Leise rezitierte sie:
    « Durch Höhlen, die kein Mensch ermisst,
Tief in ein lichtlos Meer.»
    Vance saß da und schaute zu ihr hoch. Er hatte dieses«natürlich»gehört, achtete aber nicht darauf. Ihm war nur wichtig, dass sie ihm den Namen des Mannes genannt hatte – des Mannes, der sich das ausgedacht hatte. Ihm drehte sich der Kopf, als wäre er betrunken. Er kam gar nicht auf die Idee, aufzustehen und sich der Fremden vorzustellen oder sie nach ihrem Namen zu

Weitere Kostenlose Bücher