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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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freundlichste Weise, ihre Vergesslichkeit wieder gutzumachen.
    « Stehst du früh auf?», fragte sie.«Magst du Sonnenaufgänge? »
    Er errötete wieder, anscheinend vor Freude. Ihre bruchstückhafte Befragung schien ihn jedenfalls nicht zu beunruhigen.«Ja. Dann ist der Teich sicher wunderbar», sagte er.
    « Nein, erst schauen wir uns den Hudson an. Du kannst ihn doch von hier aus nicht sehen, oder?»Plötzlich empfand sie eine Art Verachtung für ein so phantasieloses Leben wie das der Tracys.«Du ahnst ja nicht, wie er von Eaglewood aus wirkt und noch besser von weiter oben, vom Kamm, vom Thundertop. Um diese Zeit sieht der Fluss aus wie ein Meer. Kannst du Deutsch?»Er machte eine verneinende Geste, und sie fuhr fort:«Ich wollte nur etwas aus dem ‹Faust› zitieren – den wirst du eines Tages lesen –, aber jetzt höre einfach auf den Klang:
    ‹Die Sonne tönt nach alter Weise
In Brudersphären Wettgesang,
Und ihre vorgeschriebne Reise
Vollendet sie mit Donnergang.
Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke,
Wenn keiner sie ergründen mag;
Die unbegreiflich hohen Werke
Sind herrlich wie am ersten Tag.› 27
    Ist das nicht schön, als reine Musik, ohne Bedeutung? Außerdem, dieses ganze Problem der Bedeutung in der Dichtung … Ich habe einen alten Freund, mit dem ich stundenlang darüber streite …»Sie brach ab und legte für eine Sekunde all ihre Aufmerksamkeit in den Blick, den sie ihm zuwarf.«Ich habe eine Idee! Es sei denn, du fürchtest, zu müde zu werden (du warst krank, das weiß ich) … Was hältst du davon, wenn ich morgen mit dem Auto da vorne an die Straßenecke komme, ungefähr eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang? Ich fahre dich erst hinauf zum Thundertop, und dann machen wir ein Frühstückspicknick am Teich. Klingt das nicht verlockend? Aufstehen musst du allerdings um … wann? Um halb drei, denke ich. Dann sehen wir die Sterne verblassen wie Blumen und eine neue Welt entstehen – hast du nicht auch das Gefühl, die Welt wird jeden Morgen neu geboren? Und sie gehört nur uns, niemand mischt sich ein oder verleidet sie uns … O Vance», unterbrach sie sich und hob das Handgelenk vor die kurzsichtigen Augen.«Ich glaube, meine Uhr ist stehen geblieben! Dieses Scheusal! Kannst du mir sagen, wie spät es ist? Ich muss einen Freund vom Bahnhof abholen, und es ist schon fast dunkel, und das Auto ist etwas schwach auf den Beinen.»Er zog eine neu aussehende Uhr heraus und nannte ihr die Zeit.«Ach, herrje! Schaffe ich das noch? Na ja, ich probiere es, sonst ist Lewis bis morgen ohne Koffer, und er hasst es, wenn er sich einen Pyjama ausleihen muss.»Sie verharrte wie schwebend in der Dunkelheit der Veranda, als habe der Ausruf ihr Flügel verliehen, dann drehte sie sich um und hielt ihm die Hand hin. Diesmal ergriff Vance sie.«Also, bis dann. Verschlaf nicht! Morgen bin ich pünktlich», lachte sie.
    Sie lief die Stufen hinunter und kletterte ins Auto, und die Vorsehung, die sich um die Unbedachten kümmert, brachte sie gerade rechtzeitig zur Ankunft des New Yorker Zuges zum Bahnhof.
    Eine schwitzende Menge ergoss sich aus dem Bahnhof, und es dauerte einige Zeit, bis ein blonder junger Mann in einem hellgrauen Anzug zu ihr trat, mit den bedächtigen Bewegungen eines nervösen Reisenden, der entschlossen ist, gelassen zu bleiben.
    Die beiden begrüßten einander mit freundlicher Vertrautheit.« Ich hatte schon Angst, du wirst des Wartens müde und fährst davon, bevor ich aufgetaucht bin», sagte der junge Mann, während er sich und seinen Koffer im Auto verstaute.«Aber ich wollte mich nicht in diesen triefenden Haufen zwängen lassen.»
    Sie erwiderte lachend, davonfahren wäre das Letzte, woran das Auto dächte; es sei noch die Frage, ob sie es nicht den Berg hinaufschieben oder in eine Werkstatt abschleppen lassen müssten. Aber das schien ihn nicht zu schrecken.
    « Ich vermute, Lorry ist damit unterwegs gewesen», bemerkte er nur, und Miss Spear erwiderte, es sei zwecklos zu versuchen, die Familiengeheimnisse vor ihm zu verbergen. Er machte es sich neben ihr bequem, und sie legte die Hand auf das Lenkrad. Nach einem konvulsivischen Hopser schwankte das Auto einen Augenblick zwischen Stillstand und Bewegung und sauste dann den Berg hoch, als sei nie etwas gewesen. Während sie unter dem dunklen Bogen der ausladenden Bäume die Straße hinaufholperten, verfiel Halo in Schweigen, ihre Aufmerksamkeit schien völlig von der heiklen Aufgabe beansprucht, das Auto von seinen Beschwerden abzulenken,

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