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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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bis sie sicher in Eaglewood angelangt waren. In Wirklichkeit war sie in Gedanken noch immer bei dem Gespräch mit dem jungen Weston und seiner merkwürdigen Art, sich geradewegs auf den Kern der Dinge zu stürzen, so wie er sie damals in The Willows, kaum war sie in der Tür erschienen, gefragt hatte, wer«Kubla Khan»geschrieben habe, und vorher bei der Erwähnung eines Waldsees sofort eingehakt und gerufen hatte:«Kann ich da hin?»Diese Art, Einleitungen zu umgehen, sie ungeduldig beiseitezuschubsen, so wie er sich das zerzauste Haar aus der Stirn schob – das ließ die verborgene Kraft unter seinem unfertigen, knabenhaften Verhalten ahnen. Und wie wunderbar wäre das Leben ohne müßige Einleitungen – so frei von Qualm und Müll wie die kristallklare Welt des Sonnenaufgangs, die sie ihm vom Berg oben zeigen würde! Sofort zum Herzen der Dinge vorstoßen, das war das Geheimnis. Aber wie viele Menschen wussten das schon oder hatten auch nur eine Vorstellung davon, wo das Herz der Dinge wirklich lag?
    Sie fühlte eine Berührung am Arm.«Halo, ich gäb was drum, wenn ich wüsste …»
    « Woran ich gerade denke? Ich weiß nicht… Nun ja.»Sie lachte leise.«Ich habe darüber nachgedacht, dass ich heute Nachmittag dreißig Dollar ausgegeben habe und was ich dafür gekauft habe.»
    « Einen neuen Hut?»
    Halo lachte auf.«Genau. Einen neuen Hut – eine Wünschelmütze! »
    Er lachte auch, ungezwungen, ein Lachen zwischen Billigung und Beifall.«Wieso ihr Frauen immer noch neue Hüte kauft, wo ihr doch alle barhäuptig rumlauft …»
    « Ach», murmelte sie,«das macht es ja so lustig. Kunst um der Kunst willen. Außerdem ist mein neuer Hut zufällig unsichtbar, ich habe ihn jetzt auf…»
    « Na, dann steht er dir schrecklich gut», erwiderte er.
    « So was Dummes! Du weißt doch, dass du ihn nicht sehen kannst!»
    « Das ist mir völlig egal, wenn ich nur sehen kann, was sich darunter abspielt.»Jetzt schwieg sie plötzlich, und er fuhr in derselben ruhigen Tonlage fort:«Kann ich es sehen, Halo?»
    « Was willst du denn sehen?»
    « Nur ob du denkst, dass wir verlobt sind.»
    Sie entzog sich vorsichtig seiner Berührung.«Immer wenn du denkst, wir sind verlobt, denke ich, wir sind es nicht.»
    « Aha, gut, dann versuche ich, gar nicht darüber nachzudenken», erwiderte er gutmütig.
    Darauf gab sie fürs Erste keine Antwort, und sie fuhren schweigend unter den hängenden Zweigen weiter, doch als sie am Tor einbogen, sagte sie mit ihrem typischen flüchtigen Lachen, die Augen in die seinen versenkt:«Siehst du, Lewis, ich gleiche diesem alten Auto wie eine Zwillingsschwester. Wenn es sagt, es mag nicht, dann mag es fast immer doch.»

9
    Die Sommerdunkelheit raschelte in der nahenden Morgendämmerung. Am Fuß der Straße unterhalb der Tracys spürte Vance Weston dieses Sich-Regen, als sei es eins mit dem Rauschen in seinen eigenen Schläfen: ein Gespinst aus Geräuschen, zu fein, um es zu benennen oder zu unterscheiden, aber doch so anders als das gleichförmige Schweigen, das die Welt noch vor einer Stunde umhüllt hatte, dass es jetzt schien, als seufze und sträube sich jeder Grashalm im Dunkeln und jede Vogelfeder.
    Vance war unbemerkt aus dem schlafenden Haus geschlichen, saß jetzt in der nächtlichen Straße auf einem Stein unter einem krummen Weißdorn und horchte auf das Gestottere des Autos von Eaglewood. Vielleicht vergaß ihn Miss Spear wieder, wie sie ihn tags zuvor vergessen hatte (es war so liebenswert, dass sie ihm das gestanden hatte!), oder das Auto, das nach ihren Worten schon etwas schwach auf den Beinen war, mochte ganz erlahmt sein und hatte sie ihrem Schicksal überlassen, bevor sie unten angekommen war. Aber eigentlich glaubte er das nicht. Es gibt Tage, die einem schon beim Erwachen versprechen, dass sie für einen geschaffen sind und man mit ihnen machen kann, was man will, und so ein Tag war heute für Vance.
    Er war nicht beleidigt gewesen, aber verletzt und ein bisschen verblüfft, als Miss Spear gestern Nachmittag nicht nach The Willows gekommen war, obwohl sie hatte ausrichten lassen, sie wolle sich dort mit ihm treffen, damit er einen ganzen Nachmittag in den Bücher schmökern könne. Sie hatte sich die Mühe gemacht, in der Gärtnerei, wo sie einen Korb mit Pflanzen für ihre Mutter abholte, nach Upton zu fragen, und ihn gebeten, seinem Vetter Vance auszurichten, er solle sich pünktlich um drei in The Willows einfinden; Vance solle es sie jedoch wissen lassen, wenn er nicht

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