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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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gehören», das war einer von Mrs Tracys Sätzen, und Laura Lou hatte ihr übliches Schweigen gebrochen und wie immer schnell und hektisch gesagt:«Ich glaube nicht, dass sie jemals in Paul’s Landing leben wird. Sie sagt, sie will die ganze Zeit reisen, wenn sie verheiratet ist …»
    All dies verwob sich mit Vance’ eigenem Bild von der blassen, dunkelhaarigen jungen Frau, die so plötzlich vor ihm aufgetaucht war und die Verse von«Kubla Khan»mit ihrer klangvollen Stimme aufgegriffen hatte. Er schätzte sie um einige Jahre älter, als er selbst war, und für einen Neunzehnjährigen, der obendrein so wenig Ahnung von Klassenunterschieden hatte wie er, schuf ein solches Altersgefälle einen viel größeren Abstand als die Tatsache, dass Miss Spear im«Großen Haus»wohnte, wie die Tracys Eaglewood nannten, oder dass sie The Willows erben würde oder ständig reisen wollte, wenn sie verheiratet war. Vance dachte an sie wie an etwas Gottähnliches und Fernes, sah in ihr die Herrin mit den Schlüsseln zu Wissen und Erfahrung; ihre Einladung hatte ihn vor Stolz erröten lassen und schien dennoch so geheimnisvoll unwirklich wie alles in dieser neuen Welt. Als er aufstand und zum Tor von The Willows zurückging, fühlte er zum ersten Mal den stechenden Schmerz verwundeten Stolzes. Sie hatte ihn vergessen; vergessen, weil er zu jung und unbedeutend war, weil Freunde sie besuchten und mit ihren Autos abholten, weil sie nirgendwo länger als fünf Minuten blieb.
    Ach, und wie anders dachte er jetzt an sie! Seit ihrer atemlosen Ankunft vor dem Haus der Tracys am Abend zuvor, seit sie ihn auf die Veranda hatte holen lassen und sich selbst angeklagt und entschuldigt hatte, war aus der Göttin wieder eine Frau geworden, und der Frau konnte er mit Sicherheit trauen. Sie schien immer noch um einiges älter zu sein, aber das gab ihm jetzt ein glückliches Gefühl von Zwanglosigkeit und Freiheit statt von fieberhafter Aufregung, wie sie die Annäherungen eines Mädchens seines eigenen Alters in ihm ausgelöst hätten.
    Während er so in der Dunkelheit wartete, regten sich die ersten Geräusche erwachenden Lebens. Er hörte den langen, schaurigen Schrei eines fernen Zuges, dann das Rattern eines Lastwagens auf der Schnellstraße unten am Hang, gefolgt vom Hufschlag eines lahmen Zugpferdes, das Gemüse in die Stadt brachte, und schließlich ganz nahe das«Tocktock»des Autos von Eaglewood – und dann war sie da.
    « Vance!», rief sie fröhlich, aber nur halb laut, als passe sie ihre Stimme instinktiv dem Gewisper dieser Stunde an. Er legte die Hand auf die Autotür und saß im nächsten Moment neben ihr.« Jetzt hoffe ich nur, dass es anspringt!», seufzte das Mädchen. Der Wagen stotterte und bockte und blieb stocksteif stehen, wie am Abend zuvor, dann fuhr er plötzlich los, als fühle er sich von diesem Appell an seine Fähigkeiten herausgefordert und freue sich über ein so ungewöhnliches Abenteuer.
    Vance war zu sehr von glücklichen Gefühlen erfüllt, um zu sprechen. Als Miss Spear fragte:«Hast du befürchtet, dass ich dich wieder vergesse?», antwortete er nur:«Nein», und sie lachte, als gefalle ihr die schlichte Antwort, und dann schwieg sie auch.
    Als sie die Waldstraße den Berg hinauffuhren, herrschte unter den Ästen noch so weit Nacht, dass sie die Scheinwerfer anmachen mussten, und in den weißen Lichtkegeln links und rechts tauchten fein gezeichnete, reglose Blätter auf. Dazwischen schoben sich die Fahrspuren hoch und schienen Vance und Halo oben zu erwarten. All diese Einzelheiten brannten sich ihm mit seltsamer Genauigkeit ins Gedächtnis, als kröche er im Schneckentempo durch eine Ewigkeit sich wölbenden Laubwerks, und gleichzeitig war ihm, wie wenn ihn das asthmatische Auto keuchend in unbekannte Fernen entführte, sodass er erschrak, als die Scheinwerfer plötzlich das Bild einer Einfahrt malten, zweier Torpfosten aus grauem Stein, und Miss Spear sagte:«Das ist Eaglewood», denn er meinte, sie hätten eigentlich schon längst auf dem Gebirgskamm sein müssen.
    Sie fuhren immer weiter nach oben; die Luft wurde kühler, schließlich fast kalt. Die Scheinwerfer verblassten mit der unmerklich zunehmenden Dämmerung, und als Miss Spear sie schließlich ausmachte, war die Straße kaum weniger deutlich zu sehen, wenngleich alles weiter weg und gedämpfter wirkte. Endlich verließen sie hoch oben den Wald und kamen auf einen holprigen Feldweg. Verschwommen und blass wölbte sich der Himmel über ihnen, hie

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