Ein altes Haus am Hudson River
möchte ich nicht, sonst meint deine Mutter, sie muss das Abendessen stehen lassen und mich begrüßen. Und ich habe nur eine Minute Zeit – ich hole einen Freund vom Bahnhof ab», rief sie sich selbst erschrocken in Erinnerung, denn auch das hatte sie schon beinahe wieder vergessen.«Wenn du also nur kurz deinen Vetter – Vance heißt er, nicht wahr? – fragen würdest, ob er rauskommen und ein paar Worte mit mir reden will.»
« Ja, klar», erwiderte Upton. Er wollte ins Haus zurückgehen, aber die Besucherin hielt ihn am Ärmel fest.«Upton! Hör zu. Erwähn meinen Namen nicht, verrate Vance nicht, dass ich es bin. Sag nur, jemand möchte ihm etwas ausrichten – jemand möchte ihm etwas ausrichten », wiederholte sie, um mit dieser nachdrücklichen Betonung dem Jungen die Sache einzuhämmern.
« Ja, klar», wiederholte Upton. Er ging zur Rückseite des Hauses, und Héloïse, schon fast befreit von der Last ihrer Selbstvorwürfe, wie immer, wenn sie sie erst einmal ausgesprochen hatte, stand da und blickte geistesabwesend auf den Garten, den zerbrochenen Zaun und die Dunkelheit, die sich schon in den Furchen der Berge sammelte.
Wieder hörte sie Schritte und sah Vance Weston. Er stand da und starrte sie mit aufgerissenen Augen an, das schmale Gesicht von der überstandenen Krankheit gezeichnet. Im Zwielicht der Bibliothek von The Willows hatte er nicht so knabenhaft ausgesehen, jetzt erschrak sie über seine Zerbrechlichkeit und Unreife, und sie bedauerte mehr denn je, dass sie ihr Versprechen nicht gehalten hatte.
« Ich bin es, Vance. Ich komme, um mich wegen heute Nachmittag zu entschuldigen.»
« Ach», begann er, ebenso verlegen wie Upton.
« Du bist nach dem Mittagessen nach The Willows gegangen und hast auf mich gewartet?»
Er nickte wortlos.
« Stundenlang gewartet?»
« Es hat mir nichts ausgemacht. Ich saß auf der Veranda, ich fand es schön.»
« Aber es war abscheulich von mir – abscheulich! Ich weiß nicht, wie …»
Er blickte sie verwundert an.«Was konnten Sie denn dafür? Upton hat gesagt, Sie waren verhindert …»
« Ach – dann hat er dir verraten, dass ich hier bin?»Sie lachte belustigt und verfiel wieder in Selbstanklagen.«Es war schlimmer, viel schlimmer! Was ich Upton gesagt habe, stimmt nicht. Nichts und niemand hat mich gehindert. Ich habe es einfach vergessen. Der Tag war so himmlisch – nicht wahr? Ich bin allein losgezogen, den Berg hinauf, und habe in einem Teich im Wald gebadet; ich habe Bücher und die Hunde mitgenommen und alles vergessen… Kannst du mir das jemals verzeihen?»Sie streckte ihm die Hände hin, aber er stand nur da und sah sie sich verwirrt an, als könne er nicht glauben, dass ein solches Geschenk für ihn gedacht war, nicht einmal für eine kurze Berührung.
« Ein Teich im Wald … ist das hier in der Nähe? Kann ich da hin?», fragte er begierig.
« Natürlich. Ich nehme dich mit. Es ist ein himmlischer Fleck! Bei solchem Wetter ist das sogar noch besser als Bücher … Aber die Bücher bekommst du auch zu sehen», fügte sie hinzu und übergoss ihn mit ihrem unvermittelten Lächeln.
Er errötete ein wenig, wie ein Genesender, dessen Gesicht danach noch blasser wirkt.«Ich … das ist furchtbar nett …»
« Nein. Ich bin nie nett. Aber ich teile meine Schätze gern – manchmal.»Sie blickte ihn unverwandt an und registrierte mit distanzierter Anerkennung, die ebenso typisch für sie war wie ihr freimütiger Enthusiasmus, den wohlgeformten Kopf mit dem zerwühlten braunen Haarschopf, die breite Stirn und die markante Nase zwischen den weit auseinanderstehenden Augen, jenen grauen Augen, die manchmal sein ganzes Ich an die Oberfläche holten und es dann wieder in einem unzugänglichen Winkel verschlossen, so wie damals, als sie ihn in The Willows vor«Kubla Khan»überrascht hatte. Bestimmt war sie mit einem solchen Versprechen nicht zu weit gegangen. Sie geizte mit ihren sogenannten Schätzen, aber hier war einer, mit dem sie sie teilen könnte. Ja, sie würde ihm den Teich zeigen … aber wann? Ihr Leben war immer vollgestopft mit Plänen, Verabredungen und unvollendeten Arbeiten; immer kamen Leute nach Eaglewood, oder es ergab sich eine Gelegenheit zu einer Spritztour (mit Gästen, die Autos hatten), oder man musste sich auf der Stelle mit hinreißend faszinierenden Dingen beschäftigen – so wie jetzt mit dem Weston-Jungen. Ja, besser erledigte sie es auf der Stelle, bevor sich andere Dinge dazwischendrängten. Das wäre die
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