Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
Vom Netzwerk:
kommen könne. Es war der zehnte Tag nach Vance’ Ankunft, und gerade an diesem Morgen hatte er sich entschlossen, nach New York zu fahren. Er wollte allein fahren, denn Upton konnte nur sonntags weg, außerdem wusste Vance inzwischen, dass ihm sein Vetter als Reiseführer wenig nützen würde. Upton schien von der Metropole einzig zu wissen, wo die Samengroßhändler und Pflanzenzüchter ihre Kontore hatten; als Türöffner, um Vance in die Welt des Journalismus einzuführen, wäre Laura Lou etwa ebenso hilfreich gewesen. Vance gedachte deshalb allein zu fahren, nicht weil er hoffte, in Sprechweite eines Redakteurs zu kommen, sondern um seine Neugier durch den Blick auf einige der großen Zeitungsgebäude zu stillen und um überhaupt einen Eindruck von der Stadt zu erhalten. Er hatte über eine Woche gewartet, teils wegen der drückenden Hitze (seine Mutter hatte recht, es war schlimmer als Chicago), teils wegen seiner anhaltenden körperlichen Schwäche, aber hauptsächlich wegen des Nachmittags in der Bibliothek von The Willows, denn der kurze Auftritt jenes Mädchens, das eine Wiedergängerin der alten Miss Lorburn hätte sein können, hatte ihn in einen endlosen Tagtraum versetzt, nur unterbrochen von Intervallen wahnwitzigen Dichtens.
    Als Miss Spears Aufforderung kam, er solle sich mit ihr in The Willows zu treffen, ließ er New York sausen und durchlebte die nächsten vierundzwanzig Stunden in bebender Erwartung. Lange vor drei Uhr sperrte er das Tor zu dem verlassenen Haus auf und schob sein Rad durch das Gras und den Klee der Auffahrt. Der Tag war kühler – es wäre ein guter Tag für New York gewesen –, und die grüne Luft unter den Weiden zitterte vor köstlicher Frische. Vance setzte sich auf die Schwelle. Von dort konnte er durch die schimmernden Äste ab und zu einen Blick auf das Tor werfen und sah zu, wie sich die Baumschatten langsam über den Rasen schoben. Die Luft war erfüllt vom Duft der Pfeifensträucher, einem Duft wie das Summen der Bienen an einem Gewittertag. Vance lehnte den Kopf an eine Säule der Veranda und wartete …
    Er war ehrlich gewesen, als er Miss Spear gesagt hatte, er habe nicht ungeduldig oder verärgert gewartet. Er hatte immer einen für sein Alter ungewöhnlichen Hang zum Grübeln gehabt, und alles an diesem neuen Leben war so seltsam, so unwirklich, dass er selbst in Enttäuschungen und Unerfülltem Nahrung für seine Phantasie fand. Der Zauber von Miss Lorburns Haus war jetzt noch stärker als beim ersten Besuch, denn in der Zwischenzeit hatte er unter Menschen gelebt, die zwar schlicht und phantasielos waren, aber trotzdem alte Häuser für etwas Selbstverständliches hielten, die Alter und Fortdauer selbstverständlich fanden, ja fast mit einem Fuß im Grab der Vergangenheit standen, als hätten sie soeben die Grabsteine beiseitegerückt wie die Toten auf jenem wunderlichen, plumpen Jüngsten Gericht, das er einmal in einem Reiseprospekt gesehen hatte. Dass die Tracys, die niemals an etwas anderes dachten als an die Gegenwart, dennoch stillschweigend von der Vergangenheit durchdrungen waren und sich deren Macht und Schicksalhaftigkeit fügten, sodass Formulierungen wie«vor langer Zeit»,«das war schon immer so»und«das wird sich nie ändern, solange noch jemand von der Familie lebt», zum Ritual wurden, hatte Vance’ Perspektive völlig verändert und seine Welt verwandelt – von einer aufdringlichen, banalen Nahaufnahme zu einem Universum mit vielen Ausblicken, das sich von diesem leeren, schweigsamen Haus in alle Richtungen ausbreitete. Selbst der Gedanke an die Bücher hier im Haus, so nah und doch unerreichbar, quälte ihn nicht lange. Es reichte ihm, dort zu sitzen und zu warten, zu horchen, ob sich das Auto schon näherte, und zwischendrin die Ohren zu spitzen, um das heimliche Kommen und Gehen der Vergangenheit hinter der verriegelten Tür zu belauschen.
    Erst als es dämmerte, rang er sich zu der Erkenntnis durch, dass Miss Spear ihn im Stich gelassen hatte. Nun regte sich sein Jungenstolz, und einen Augenblick lang war er gekränkt und gedemütigt. Er erinnerte sich an Uptons Worte:«Sie bleibt nirgendwo länger als fünf Minuten. Ein Freund hat sie mit seinem Auto abgeholt», und an spätere Anspielungen von Mrs Tracy, die sprachlos vor Staunen war, als sie hörte, Miss Spear gedenke einen ganzen Nachmittag zu opfern, um Vance die Bücher in The Willows zu zeigen.«Nein, so was! Natürlich hat sie das Recht dazu – eines Tages wird ihr das Haus

Weitere Kostenlose Bücher