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Ein altes Haus am Hudson River

Ein altes Haus am Hudson River

Titel: Ein altes Haus am Hudson River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edith Wharton
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begann, beschlich sie eine gewisse Unsicherheit. Konnte es sein, dass ihre Meinung nicht so unvoreingenommen war, wie ihr Mann glaubte? Interessierte sie sich nur deshalb für Vance’ literarische Laufbahn, weil sie die alte Beziehung zu dem begeisterungsfähigen Jungen, der an ihre Einbildungskraft gerührt hatte, zu erneuern hoffte und wieder in die Rolle der Mentorin und Muse schlüpfen wollte, die sie bei den langen Gesprächen in The Willows gespielt hatte? Bei seinen Worten«Sie haben mir als Erste gezeigt, was in Büchern steckt»hatte sich ihr verkrampftes Herz erwärmt und geöffnet, und als er einen Augenblick später erzählte, er sei verlobt, und sich eine Unbekannte zwischen sie schob, war etwas in ihr zurückgeschreckt, und eine Tür hatte sich geschlossen. Nun ja, warum auch nicht? Sie war einsam; sie hatte sich auf die Kameradschaft gefreut, die sich hier vielleicht bot. Aber dass sie vom Schicksal für Enttäuschungen ausersehen schien, war noch kein Grund, sich weniger für seine Arbeit zu interessieren … Als sie das Manuskript in die Hand nahm, versuchte sie das Gefühl zurückzurufen, mit dem vor ein paar Tagen ihr Blick auf den ersten Absatz von«Ein Tag»gefallen war.
    Die neue Erzählung war anders, weniger ungestüm, weniger gefühlsbetont, vor allem weniger persönlich. Gewann er schon Abstand zu seinem Stoff? Wenn ja, sähe Frenside in ihm einen künftigen Romancier.«Wenn er weiterhin haarklein Kapitel für Kapitel seine eigene Geschichte erzählt, so wie er sie erlebt hat, ist das nur eine Autobiographie, allenfalls sind es Essays im Gewand von Romanen, aber keine echten Romane. Und wahrscheinlich wird er das nicht lange durchhalten.»Das würde Frenside in einem solchen Fall sagen. Er war felsenfest überzeugt, dass ein noch so brillantes«Ich-Buch», wie er es nannte, bestenfalls eine Eintagsfliege war und kaum Aussicht auf eine Wiederholung des Erfolgs bot. Nun ja, der soeben gelesenen Erzählung konnte man kaum den Vorwurf der Subjektivität machen. Der Autor war zwar noch ein Junge, hatte sich aber weit genug von seinem Stoff entfernt, um ihn von mehreren Seiten zu beleuchten. Es war eine merkwürdige Geschichte für einen Anfänger. Sie hatte den Titel«Nicht abgeholt»und berichtete von einer Episode im Zusammenhang mit den nach Hause überführten Leichen der in Frankreich gefallenen amerikanischen Soldaten. Myra Larcom, die Dorfschönheit eines Prärieörtchens, hatte sich 1917 mit Ben Purchase, einem Schulkameraden und Nachbarssohn, verlobt. Ben Purchase fiel an der Front, und aus Myra der Schönheit wurde Myra die Heldin von Green Lick, das zufällig keinen anderen Gefallenen zu beklagen hatte. Als die Regierung anbot, die toten Soldaten zum Zwecke des Begräbnisses nach Hause zu schicken, nahm Myra natürlich an. Ihr Ben war Waise; niemand war nah genug mit ihm verwandt, um die Kosten für seine Überführung zu übernehmen; außerdem, sagte sie, hätte sie niemandem dieses Privileg gegönnt. Aber die Rückkehr der toten Helden zog sich in die Länge. Monate vergingen, und noch ehe auch nur eine Nachricht über deren Ankunft eintraf, war ein anderer Held – lebendig – zurückgekommen und hatte Myra erobert. Anscheinend war ihre Verlobung mit Ben Purchase eine Kurzschlusshandlung gewesen, das Ergebnis einer Umarmung bei Mondschein am Abend seines Aufbruchs, ja sie war sich gar nicht mehr so sicher, dass sie sich wirklich verlobt hatten, und als sein Leichnam endlich in New York eintraf, gab es niemanden mehr, der ihn abholte, niemanden, der den Transport bezahlte, und schon gar kein Begräbnis samt Grabstein. Doch Tullia Larcom, Myras ältere Schwester, war insgeheim immer in Ben verliebt gewesen, auch wenn er sie nie eines Blickes gewürdigt hatte. Sie war ein unscheinbares Mädchen, die geborene alte Jungfer, das Arbeitstier und Aschenputtel der Familie. Als Dorfschneiderin hatte sie ein wenig Geld zurückgelegt, wenn auch nicht viel, denn es gab zu viele Bittsteller. Und wie sich erwies, war es teuer – furchtbar teuer –, einen toten Helden nach Hause zu überführen und zu beerdigen. Und je länger man ihn in der Obhut seines dankbaren Vaterlandes ließ, umso teurer wurde es …«Nicht abgeholt»berichtete in schlichter, unsentimentaler Weise, wie es Tullia Larcom gelang, Ben Purchase’ Leichnam nach Green Lick zurückzuholen und ihm zu einem Grab samt Stein zu verhelfen … Als Halo mit dem Lesen fertig war, hatte sie ihren Mann, die Köchin und sogar ihre kleine

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