Ein anderes Leben
befällt ihn plötzlich mit unwiderstehlicher Kraft.
Der Pissdrang nimmt zu, gewaltiger Druck.
Gleichzeitig erreicht Anita Björks Gestaltung eine vertiefte Intensität, aber er selbst denkt jetzt nur wild und panisch an die Alternativen, und die sind Pest oder Cholera. Er kennt seinen Freund Ingmar Bergman gut genug, um zu wissen, dass er ihm nie, nie verzeihen würde, wenn er aus dem Saal hastete. Er würde in Ingmars schwarzes Notizbuch eingetragen werden, auf der letzten Seite, wo nur die Verräter stehen, die den Verräterischen in Dantes Hölle gleich die Niedrigsten sind.
Undenkbar, den Saal zu verlassen. Würde die Verzauberung brechen. Käme direkter Kritik an Anita Björk und Bergman selbst gleich. Pissdrang schlechte Entschuldigung, keiner würde seiner Darstellung des Vulkanischen Glauben schenken, besonders Ingmar nicht. Eine Möglichkeit wäre immerhin, es einfach laufen zu lassen; der Malersaal im Dramaten hat abschüssigen Boden, es würde nach vorn laufen, lautlos wie ein kleiner Bach, niemanden stören. Nachher könnte man aufwischen.
Oder – würde er an sich halten können?
Die Vorstellung auf der Bühne immer ergreifender. Er kämpft verzweifelt, die Blase schwillt vollständig unkontrolliert. Zum ersten Mal gestaltet sich ihm in diesem Kampf der Respekt, ja fast die Furcht, die die Theaterwelt weit über alle Grenzen hinaus vor dem schwedischen Regisseur Ingmar Bergman empfindet.
Michaels Angst also durchaus verständlich.
Es gelingt ihm, an sich zu halten. Nur eine unbedeutende Menge sickert heraus.
In der Pause stürzt er aus dem Saal.
Hinterher erzählt er alles Bergman, der sich köstlich amüsiert und bestätigt, dass er nie verziehen haben würde, ihn aber kräftig lobt wegen seines Glaubenskampfes und seiner Durchhaltefähigkeit, die mit einem Sieg endete. Er fragt, ob Enquist zu Gott gebetet habe. Dieser verneint.
Sie unterhalten sich anschließend lange über das Glaubensproblem in Bergmans hochkirchlichem Milieu und in seiner eigenen herrnhutischen Erweckungsbewegung.
Viel später wird er selbst Regie führen, eigene Stücke und andere, und ein wenig mehr verstehen. Aber er weiß, dass er das Mannschaftsgefühl dieses Theaters während einer Probe liebt, das am Ende fast alle Konflikte übermannt .
Die Dichte. Das Schweigen, das eine Gruppe Menschen in einem Probenraum umgibt. Wenn es nur nicht diese schreckliche Premiere gäbe, die so an jenen Alptraum erinnert, wenn er selbst viele Jahre an einem Roman gearbeitet hat und vollkommen einsam gewesen ist, Tag um Tag, Jahr um Jahr, einen Text herausgeschrieben hat, und der plötzlich, eines Montagmorgens, beurteilt und geschlachtet und gelobt werden soll.
Das Kind herausgerissen aus der Gebärmutter. Und dann um sechs Uhr am Morgen hinausgehen, zum Briefkasten, in dem die Morgenzeitungen stecken, den Kasten öffnen, und da liegen die Urteile.
Auf die man dem Vernehmen nach nichts geben soll.
Erst am Tag vor der Preview, bei der das erste zahlende Publikum zugelassen wird, dürfen die Schauspieler ins Helen Hayes Theater kommen.
Das hat einen einfachen Grund: Das Theater ist besetzt, man spielt dort bis zum letzten Augenblick Equus , schon im dritten Jahr. Der Übergang muss blitzschnell erfolgen. Jetzt wird es eng; am Abend vor der ersten Preview dauert die Probe bis halb eins in der Nacht, Michael Kahn überschüttet die Schauspieler mit Anmerkungen, Tonanweisungen, Szenenänderungen, Tempoangaben.
Auch dies ist der Broadway, unerhört viel Wissen, Leidenschaft, Erfahrung. Jedes Lachen muss sitzen, jeder Tonfall, jede Pause, der Rhythmus. Alle klemmen sich in Bibis Loge, und Hunderte kleiner Nuancen werden eingetragen, während die Bühnenarbeiter unmittelbar daneben umbauen; die Beleuchtung wird separat gefahren, und die Nacht wird lang.
Es ist eine kleine Gruppe, jetzt fest zusammengeschweißt, auch er mit dabei, in einer kleinen Loge. Und morgen ist das unerbittliche Publikum da. Und dann fünf Tage bis zur Premiere. Jetzt ist keine Zeit mehr für dummes Gerede oder Einwände, Michael unterbindet blitzschnell jegliche Diskussion und treibt alle weiter.
Was ist das Besondere an dieser Premiere? Er hat doch schon ziemlich viele erlebt. Warum der enorme Druck, den alle verspüren, warum ist dieser Broadway etwas so ganz anderes? Er weiß es nicht. Aber er weiß, dass es so ist, und wie viele Proben und Premieren er später noch miterleben wird, nichts wird genau diesem hier gleichen.
Tempo. Details. Tempo. Es ist
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