Ein anderes Leben
verhalten.
Viel später erlebt er selbst ein Beispiel dafür.
Bergman probt vor der Uraufführung der Bildermacher am Dramaten, und die Premiere rückt näher. Er begreift nach und nach, dass der Meister immer unruhiger wird, genauer gesagt verdammt nervös. Er weiß an und für sich, dass dies das Normale ist und nichts damit zu tun hat, ob die Produktion reibungslos läuft oder katastrophal.
Ingmar hatte ihm von dem äußerst geheimen Tagebuch erzählt, das er über all seine Theaterproduktionen in den siebziger Jahren geführt hat. Sehr private Dokumente. Die niemals veröffentlicht werden sollten. Nie! Aber auf seine alten Tage saß Bergman auf Fårö und las diese Dokumentation seiner Gefühle angesichts der Theaterarbeit durch, und war tief erschüttert.
Es zeigte sich, dass die glückliche Zeit, an die er sich jetzt erinnerte, in den Tagebüchern eine permanente Serie von Katastrophen war. Auf jeden Fall in der stundenkurzen Tagebuchperspektive.
Jede Inszenierung voller Konflikte. Nichts hing zusammen. Ging praktisch jeden Tag in Tränen vom Theater nach Hause. Nicht ein Wort über das Glück, mit Schauspielern zu arbeiten, oder wie wunderbar sie waren, sein später felsenfest wiederholter Standpunkt, sondern nichts als Elend. Aber dann – jedesmal – die unfassbare Verblüffung bei der Premiere. Dass es zusammenhing. Tatsächlich verteufelt gut war.
Doch während der Proben: nichts als Elend. Auf jeden Fall diesem schwarzen und finsteren Dokument zufolge. Das, wie Bergman – der der einzige Leser war! und dem man deshalb glauben musste! – bei allem, was ihm heilig war, versicherte, ein noch misanthropischeres Tagebuch war als des Blumenkönig Linnés entsetzliches und menschenhassendes Nemesis Divina .
Auch vor der Premiere der Bildermacher gegen Ende der neunziger Jahre waren seine Qualen offensichtlich. Seine Ausreden, um den Autor nicht an den Proben teilnehmen zu lassen, waren kleine literarische Meisterwerke. Jeden Abend lange Gespräche mit dem Autor, sehr konstruktiv, aber kommen und zuschauen? Nein. Unerhört bestechende und fantasievolle Analysen, warum es gerade am nächsten Tag, leider, leider nicht möglich war, eine Probe oder einen Durchlauf zu sehen. Also wegen gerade aufgetretener Beleuchtungsprobleme, Erkältungen, technischer Pannen, oder absolut notwendiger Schuhwechsel bei einem der Schauspieler.
Im schlimmsten Fall hatte die Souffleuse sich den Fuß verstaucht.
Aber am Ende dann, zehn Tage vor der Premiere, ist es ja unausweichlich. Ein verbissener, unerhört angespannter Bergman, den Kommandoton eingeschaltet, weist exakt den Stuhl an, auf den der Autor sich setzen soll, Reihe drei, Platz 64. Dass er selbst schräg dahinter sitzen wird, bedeutet: Kontrolle über sämtliche Bewegungen und jeden Gesichtsausdruck des Autors. Dass es im Saal sonst leer sein soll, dass es ganz sicher eine Katastrophe wird, dass er schon jetzt um Entschuldigung bitten muss für seine Unfähigkeit, dass es wirklich nicht an den Schauspielern liegt, die im Prinzip wunderbar sind, dass man nicht husten darf, dass er froh ist, dass der Autor keine Erkältung hat; und zu guter Letzt und endlich: Bitte sehr!, mit Donnerstimme.
Aber es gibt ein Problem.
Gegen Ende des ersten Akts, nach einer halben Stunde, gibt es im Stück einen langen Monolog der wunderbaren Anita Björk, vielleicht zwanzig Minuten lang; sie ist brutal und ergreifend und erzählt von ihrem Vater und vom Co-Alkoholismus der Rollengestalt Selma Lagerlöf und wie sein Alkoholismus ihre Jugend zerstört hat. Und von ihren lebenslangen Lügen über den Schnaps des Vaters. Auch bei ihrer Rede, als sie den Nobelpreis bekam. Und gerade als die Stimmung den Höhepunkt an Intensität erreicht hat und das Schweigen sich vertieft und er weiß, dass jetzt die intensivsten zwanzig Minuten des Stücks bevorstehen, spürt er plötzlich, dass er pissen muss.
Es ist kein gewöhnlicher Pissdrang. Normalerweise hat er keine Probleme. Es ist ein nahezu vulkanisch anschwellender Pissdrang, der vermutlich durch und durch psychisch bedingt ist, weil er weiß, dass es keine Rettung gibt. Der auf Angst gegründete Respekt vor dem Denkmal Ingmar Bergman, den er vorher nie verspürt hat, auf jeden Fall nicht als Belastung, aber der, wie er weiß, auf der ganzen Welt eine Tatsache ist, diese devote Bergman-Angst!, diese Mythenbildung über den Dämon!, den er selbst nur als einen lustigen und treuen und wild scherzenden Freund kennengelernt hat, dieser Respekt
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