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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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fast wie eine Verführung, er wird mitgerissen in den Sog, geht in den frühen Morgenstunden zum Hotel zurück, nimmt ein Glas Whisky und grübelt darüber nach, ob etwas verloren gegangen ist oder ob diese Präzision das Endziel ist, das sie alle angestrebt haben.
    Keiner fordert jetzt mehr die Entlassung des anderen. Friedliche Liebe, unter dem Fallbeil.
    Alles ist so still geworden, beinah feierlich.
    Am Nachmittag des Premierentags sind im Theatersaal die Lichter gelöscht, auf der Bühne eine einzige Lampe, alle sitzen im Kreis und lesen leise das Stück durch, hören einander zu, flüstern fast. Der Lichtkegel klein. Es ist eine Lesestunde wie unter der abendlichen Lampe. Anschließend gibt Michael letzte Direktiven aus. Es wird stumm sein im Publikum, hundertzehn Kritiker vorangemeldet, sie werden schweigend dasitzen und sich Notizen machen und auf jeden Fall nie lachen. Don’t worry. Es ist ausverkauft, fantastische Vorab-Publicity, Doppelseite in der New York Times , Pia Lindström hat gestern auf NBC ein großes Interview mit PO gemacht, überall gespannte Erwartung. Geht es in aller Ruhe an. Die Aufführung steht, sobald der Vorhang gefallen ist, stürmen alle Kritiker hinaus, keine Angst deshalb. Sie haben nur zwei Stunden zum Schreiben, die Fernsehkritiker noch weniger.
    Good luck und break a leg. Hals- und Beinbruch.
    Und dann, plötzlich, ist es vorbei.
    Im Halbdunkel hinter der Bühne laufen Gratulanten verwirrt durcheinander, Plastikbecher mit Whisky werden entschlossen geleert, Bibi weint erschöpft und glücklich, alle sind sich einig, dass es gut gegangen ist. Es war praktisch, trotz der Premierenhölle, die beste Vorstellung, die man bisher gemacht hat, fast fehlerfrei. Also kann niemand die Schuld auf etwas anderes schieben. Das ist das. Keiner hatte einen off day.
    Jetzt steht nur noch Sardi’s aus, und das Jüngste Gericht.

Zu den Mythen über den Broadway gehören die Rituale: Sardi’s ist ein wichtiger Teil.
    Es ist ein Restaurant, liegt in einer Seitenstraße im Herzen des Theaterdistrikts, und alle Wände sind mit Zeichnungen von Theaterkoryphäen bedeckt. Hier zählt Filmruhm nichts: Man muss einen Erfolg am Broadway vorzuweisen haben, dann kommt man an die Wand. Nein, nicht Erfolg; pyramidalen Erfolg.
    Sardi’s ist das, was in der Premierennacht passiert. Hier ist das Fest vor dem Urteil.
    Die ungeschriebenen Regeln bestimmen, dass alle Beteiligten – einer nach dem anderen, damit ihr Erfolg nicht vermengt wird – das Sardi’s betreten, jetzt ›Geschlossene Gesellschaft‹, und von Scheinwerfern und Fernsehkameras und Applaus und Jubel begrüßt werden.
    Dies sind die kurzen Stunden zwischen der Premiere und dem Urteil. Ab neun Uhr findet man sich ein. Um elf Uhr kommen nach und nach die Besprechungen, zuerst die Fernsehrezensionen. Um zwölf Uhr weiß man, was die New York Times sagt: dann werden die unfassbar begabten Gewinner oder die tragischen oder komischen Verlierer gekürt. Zwar zeigt sich Burry ein wenig beunruhigt wegen der NYT: Clive Barnes hat vor einigen Monaten als Theaterkritiker aufgehört, und seine Liebe zu den Tribaden , der eigentliche Grund, warum das Stück an den Broadway gehievt wurde, ist entfallen, sein Nachfolger heißt Richard Eder und ist Ire, Katholik und hat elf Kinder! Kann das eine Rolle spielen?
    Ziemlich viel Schmuddelkram in den Tribaden . Lesbische Damen. Pimmelmessung, sechzehn mal vier Zentimeter, Herr Schiewe!
    Keiner weiß es. Doch sehr bald wird man es wissen. Es ist genau wie im gewöhnlichen künstlerischen Dschungel, nur viel deutlicher, und größer, und mit einem Dollarzeichen in jedem Auge, unruhiges Flüstern wie vor einem Börsengang oder angesichts des Gerüchts von einem Insidertip an der gar nicht weit entfernten Wall Street.
    Es fällt ihm schwer zu verstehen, was die Leute sagen. Die Gesichter sind vergrößert, tauchen sehr dicht vor ihm auf, Münder bewegen sich: Beide Etagen des Sardi’s sind voll, sicher fünfhundert Personen, aber in der oberen Etage scheinen sich die meisten der Engel des Broadway, also die Inhaber von Enquistaktien, gesammelt zu haben. Noch sind sie fest der Meinung, dass es großartig ist, ein fantastischer Hit, und sie sagen es ihm, immer sehr dicht vor ihm. Alle trinken Alkohol, sehr schnell, denn um zwölf Uhr kann es zu spät sein, wenn es ein Fiasko wird, und die Minuten sind kostbar. Die nicht Überzeugten lächeln nur, breit, fast vulkanisch, und vermeiden es, sich in ihrem Urteil

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