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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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wie er dort zu Hause auch.
    Die Papierstapel für seinen Roman wachsen.
    Schließlich reist er, um zu sehen, ob er davon loskommen kann.
    Er reist fast ohne Gepäck, um unbeschwert in den Dschungel vordringen zu können, von dem er vermutet, dass es ihn gibt. Er nimmt nur einen kompakten Militärrucksack mit, den er einst auf seiner Hochsprungtournee 1963 in Israel erstanden hat.
    Die Begegnung mit den schwedischstämmigen Auswanderern ist herzzerreißend.
    Sie sprechen ein altertümliches Bibelschwedisch, das sich seit siebzig Jahren nicht verändert hat. Sie sagen, dass sie gern mit ihm über die alte Heimat sprechen wollen , und in der kleinen Kirche in Obera singen sie gemeinsam ›Kirche der Väter in Schwedenland‹. Es ist so schön, dass er fast weinen könnte. Als die Gesangbuchkommission später dieses Lied streicht, ist er erbost, überlegt, ob er aus der Staatskirche austreten soll, geschichtslose Opportunisten .
    Die Vertriebenen hätten doch gut ihren Traum weiter behalten dürfen.
    Sie waren nach Misiones gekommen, um Yerba anzubauen, den grünen Tee, aber plötzlich fiel der Weltmarktpreis, und das Elend setzte ein. 1913 schickte die schwedische Regierung einen Diplomaten hinüber, Botschaftsrat Paulin, nachdem Berichte das Heimatland erreicht hatten , dass die ausgewanderten Arbeiter zwar während des großen Streiks aufgemuckt hatten, jetzt jedoch humanitäre Gründe dafür sprachen, sie in die Heimat zurückzuholen, seit diese Auswanderer angefangen hatten, wie die Fliegen zu sterben. Viele von ihnen waren jedoch zu stolz, und nur tausend krochen zu Kreuze und kehrten zurück. Die meisten glaubten, nach dem großen Streik noch immer auf den schwarzen Listen zu stehen, und hatten nur wenig Hoffnung. Waren ja auch gestorben wie Fliegen. Gottes Strafe, vielleicht. Die Mehrheit kam aus Kiruna und war nicht an Sandflöhe gewöhnt.
    Eigentlich hat er den gesamten Roman fertig. Nur dass der nicht lebt.
    Er weiß, dass eine junge Frau die Hauptgestalt in seinem Roman sein soll, es ist die, an die er als Eeva-Lisa denkt. Sie trägt Onkel Arons Kind, als sie flieht. Für sie gibt es ein Vorbild, allerdings nicht die wirkliche Eeva-Lisa, über die er nicht sprechen darf.
    Konnte man Wirklichkeit so benutzen, zwei Leben verknüpfen? Er weiß es nicht. Er weiß, wie es dem jungen Mädchen der Wirklichkeit erging, das schwanger war, als es emigrierte. Sie bekam Parkinson und wurde tot in einem Dorf in der Nähe von Obera aufgefunden, und man schreibt, dass ›sie in ihrem hilflosen Zustand bei lebendigem Leib von den Ratten gefressen wurde‹. Was kann er daraus machen? Jemand nahm sich des Kindes an, wer, weiß er nicht. Das Kind starb in den vierziger Jahren. Die Mutter im Dschungel von Ratten aufgefressen!
    Niemand würde das glauben. Erfindung eines Romanautors. Er starrt auf den Satz, den er ans Ende des Buchs setzen will, den von den Ratten, die anfangen, an Eeva-Lisa zu nagen, ›und so erstrahlte am Ende der erste Stern auf ihrer Wange‹; doch das ist ja nur schön. Nicht mehr.
    Er ist fleißig, und die Kolonie hilft ihm loyal. Alle Zeugnisse sind entweder heroisch oder entspringen einer tiefen Trauer, aber in ihm finden sie keine Verankerung.
    Nicht nur Schweden flohen in jenen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. Es gab eine finnische Kolonie, Colonia Finlandese , sie lag nicht weit vom Fluss Uruguay entfernt. Die Finnen waren völlig anders, radikale Intellektuelle, die um die Jahrhundertwende vor der zaristischen Unterdrückung geflohen waren. Sie hatten sich wie Intellektuelle verhalten, nie eine Axt in die Hand genommen, noch weniger einen Spaten; erhaltene Texte legen Zeugnis davon ab, dass diese finnlandschwedischen Freiheitskämpfer und Flüchtlinge Querflöte spielten, die Eingeborenenfrauen beschliefen und sich totsoffen.
    Es ist sehr leicht, voranzukommen, zuweilen mit Deutsch. Alte Nazis, die im Dschungel abgetaucht sind.
    Er fährt per Anhalter in Misiones umher, und eines Abends sieht er Clint Eastwood in einem Spaghettiwestern, aber die Streifen sind gerissen, und der Film wird ständig unterbrochen. Sie müssen hinaus ins Dunkel und Bier trinken und gehen wieder hinein und wieder hinaus, am Ende geben alle auf. Er spricht seine Tagebucheintragungen auf ein kleines Tonbandgerät und spielt sie ab, als er wieder nach Schweden zurückgekehrt ist.
    Die Stimme klingt ängstlich und einsam. Wohin soll er sich wenden.
    Nicht sehr sinnvoll, zu zerfallen.
    Er kommt immer mehr herunter, wäscht sich

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