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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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selten, die israelische Armeetasche immer zerknautschter, wie eine Blutkloßschleuder; er sehnt sich im übrigen häufig nach Blutkloß. Nachts schläft er schlecht in eigentümlichen Unterkünften. Er versteht, dass diese exilierten Grubenarbeiter aus Kiruna kaum Kenntnisse mitbrachten, die für die Plantagenarbeit im Dschungel geeignet waren. ›Sie waren auch nicht an die Infektionskrankheiten gewöhnt, die dort wüteten.‹Eine achtköpfige Familie geht innerhalb eines halben Jahres zugrunde; die Mutter wird zurücktransportiert. Vier von denen, mit denen er spricht, sind in Schweden geboren, haben aber fast keine Erinnerungen und fragen ihn, wie es in der Heimat ist. Sie haben Gerüchte vernommen, dass die Arbeitgeber dort jetzt gesprächswillig und milden Sinnes seien und allen Suchenden Arbeit geben, bei vollem Lohn, und dass alle Krankenpflege erhalten.
    Er bekräftigt.
    Die Dänen, die ungefähr gleichzeitig kamen, waren klüger und siedelten fünfhundert Kilometer weiter südlich auf den Pampas und wurden unermesslich reich . Die Finnen soffen sich zu Tode. Die Schweden hielten durch auf ihren festgestampften Lehmfußböden. ›Kirche der Väter‹ ist das schönste Kirchenlied. O wie herrlich, Worte zu wechseln mit dir.
    Wie ist es, im Exil zu leben? Im Exil sind die Träume vom verlassenen Land stark. Er wird es bald erfahren.
    Er trampt schließlich weiter nach Norden, überquert den Fluss Uruguay auf einer von Hand gezogenen Fähre ähnlich der, die es auf dem Mela am Einlauf des Hjoggböleträsk gab. Reist durch Rio Grande do Sul, dann hinunter zur Küste. Zunächst Busse, dann Flug nach Rio.
    Er stellt fest, dass die Stimme auf dem Tonband jetzt freimütiger klingt und dass der Wechsel des Verkehrsmittels, vom Trampen zum Fliegen, bedeutet, dass er aufgegeben hat.

Ohne dass es ihm bewusst geworden ist, haben die Erwartungen begonnen, ihren Steinsack auf seine Schultern zu legen.
    Es ist unbegreiflich. Erwartungen haben ihn bisher noch nie beschwert.
    Er war der erste im Dorf, der den Realschulabschluß machte. Er war der erste in der Familie, der das Abitur machte. Er verzichtete nicht nur darauf, Volksschullehrer zu werden, die Spitze der alten Karriereleiter zu erklimmen, er studierte weiter in Uppsala. Er schrieb Romane. Es war kein Ende abzusehen. Sein toter Vater und Wohltäter saß wohl dort im Himmel und bekam den Mund nicht mehr zu und wusste nicht, was er glauben sollte. War das möglich? Wie konnt ’m Elof sein Jong das alles ganz alleinich schaffen? Entgegen allen Erwartungen? Das hatte niemand geglaubt. Er wurde besser und besser.
    Bald wird er noch Bischof. Wahrlich ein fast biblisches Wunder.
    Und wirklich keiner hatte es vorhersehen, geschweige denn erwarten können. Warum dann dieser wahnsinnige innere Druck? Den nicht einmal das Nippen an einem kleinen Glas wohlschmeckendem Egri, dem unvergleichlichen Wein aus der Puszta mit seinem runden, willigen Nachgeschmack lindern konnte.
    Er sieht sich als den Paganini der abgebrochenen Riesenprojekte.
    Das Auswandererprojekt war ja nicht das erste, das Schiffbruch erlitt. Gegen Ende der sechziger Jahre hatte er sich in einen epischen Roman über Joe Hill vergraben, aber nach fast einem Jahr eingesehen, dass er auch hier keinen inneren Verankerungspunkt in der Geschichte hatte; im übrigen schienen andere Autoren auf den gleichen Gedanken gekommen zu sein. Das Bedürfnis, Verankerungspunkte in sich selbst zu haben, ist groß. Er wirft das gesamte Material über diesen schwedischen Arbeiterhelden fort, plus dreihundertzwanzig Seiten geschriebenen Text, und er trauert nicht darum. Er weiß, dass er in diesem Exildrama über Joe Hill nie eine innere Verankerung hatte.
    Hätte sich das eine Lehre sein lassen sollen. Statt dessen sofort das Projekt Argentinien .
    Schließlich, an einem Wintertag im Januar 1976, sieht er ein, dass es so nicht weitergeht. Er betrachtet die Mappen voller Material und Entwürfe mit Widerwillen, fast mit Hass. Er muss aufgeben. Er sagt sich, dass er, wenn er jemals in seinem Leben noch einen Roman schreiben will, dies alles vernichten muss. Das tut er auch.
    Die Arbeit von mehreren Jahren zum Teufel. Unfug? Nein. Es tut verdammt weh.
    Doch er schreibt, probeweise, später mit wachsender Lust, fast euphorischer Freude, einen Prolog zu dem verworfenen Auswandererprojekt. Plötzlich wird vieles von der Arbeit, die er auf Recherchen zur Situation in Bureå um die Jahrhundertwende verwendet hat, vollkommen lebendig. Dies

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