Ein anderes Leben
viel mehr zu sagen. Er könnte hinzudichten, aber warum!, fragt er sich in stummer Empörung.
Er ist nicht sicher, ob diese fünfzehn Jahre in einem neuen Land eigentlich als Wirklichkeit zählen oder als erlebte Fiktion.
Er beschließt, Dänemark als eine Landschaft in Schweden zu betrachten, wenn auch südlich davon, und dass er deshalb nie Dänisch lernen muss. Seine Frau Lone spricht Dänisch mit ihm, er spricht Schwedisch mit ihr. Nach einer Weile hört er auf, Unterschiede zu registrieren. Weil im neuen Land die Meinung vorherrscht, dass Schweden ein Verbotsland ist, nur vergleichbar mit Albanien und der DDR, strengt er sich an, auch in dem neuen südschwedischen Kreis Dänemark Verbote zu finden. Er trifft auf zahllose, und ist erfreut. Er steht auf dem Standpunkt, dass man den guten Menschen nicht per Gesetzgebung hervorbringen kann, wohl aber den bösen mit Verboten einzäunen, wie eine bösartige Färse. Große Mühe verwendet er darauf, das obligatorische Tragen des Sicherheitsgurts in Schweden zu verteidigen. Seine Argumentation ist ökonomisch, er will nicht mit seinen Steuergeldern Krankenhausrechnungen für Nachlässige bezahlen. Das Leben und eventuelles Leiden kümmere ihn nicht, sagt er. Er findet, dass Dänemark mit der Zeit nicht so rund, humorvoll und gut gelaunt erscheint, wie er gedacht hat, und liebt deshalb seine neue Heimat immer mehr. Er glaubt im Exil zu leben, doch weil dieses Exil selbst gewählt ist, ist es nicht aufwühlend und entsetzlich, wie etwa das Thomas Manns.
Er tastet sich vorwärts.
Seine neue Frau wird Chefin von Det Kongelige Teater, einem ehrwürdigen Koloss; es beschwert ihn nicht, sondern erfüllt sein Leben. Man kann in der Welt des Theaters leben und davon verschlungen werden; er wird verschlungen. Diese Welt hat nichts mit der Welt des Romans zu tun. Es ist ein anderer Planet, mit anderen Menschen. Der einzige Roman, den er schreibt, ist ein kurzer Text von hundertvierzig Seiten, ein Liebesroman, über ein Monster mit doppeltem Kopf, Pascal Pinon und seine Maria. Sie leben zusammengewachsen, Maria bewegt die Lippen, doch es kommen keine Wörter heraus; wenn man ihr wehtut, singt sie böse. Es ist völlig lautlos, aber er kann es hören. Der Roman beschreibt eine ganz normale Ehe, steht auf dem Rückseitentext des Buchs, den er selbst verfasst hat.
Es ist ein dünnes Buch, weil es ein Wunder war, dass es überhaupt geschrieben wurde, damals, Mitte der achtziger Jahre. Er konnte während einiger Morgenstunden schreiben, wenn er nüchtern war, dann nicht mehr, daher das Format.
An den Nachmittagen, an denen er trinkt, ist die Welt still, fast milchweiß. Er schläft viel, schläft immer mit einem fast glücklichen Lächeln ein; wenn er eine Stunde später wach wird, ist das kompakt Milchweiße verschwunden, und er friert.
Langsam beginnt er zu verstehen, dass er ein Problem hat. Aber es gibt einige Stunden am Morgen, da ist alles höllisch klar und scharf, wie nach einem eiskalten Regen, da kann er arbeiten, er nutzt diese Stunden.
Seine Ehe ist sehr glücklich. Es werden einige glückliche Jahre. Er bemerkt jedoch, anfangs im Vorübergehen, dass er sehr selten schreiben kann. Es kommt zwar manchmal, plötzlich, überfallartig, aber dann verschwindet es. Er hat keine Erklärung.
Die dänische Periode dauert von 1978 bis 1993, er besitzt einen Ficus Benjamin, der beharrlich stirbt, er hat zwei Kinder verlassen, er hat große Erfolge als Dramatiker, und er hat das Gefühl, auf dünnem Eis zu gehen.
Es nähert sich, er windet sich.
Was den Ficus angeht: Die Blätter fielen ständig, wie ein Warnsignal, er ignorierte die Zeichen vollständig und mit überlegenen Gebärden. Er hatte Schweden im Juni 1978 verlassen und war im August mit seiner zukünftigen dänischen Frau in eine kleine Zweizimmerwohnung am Duevei in Frederiksberg gezogen; sie hatte den Charakter einer Jungmädchenwohnung. Er hat die Absicht, mit der Arbeit an einem Roman zu beginnen, noch ohne Titel, möglicherweise ›Kapitän Nemos Bibliothek‹, doch das einzige, was bei dem Ganzen herauskommt, ist eine Art Ballade in zwölf Strophen mit dem Titel ›Malin Häggströms Wiegenlied‹.
›Nemo‹ umschließt seine fünfzehn Jahre in Dänemark. Er selbst ist auf ähnliche Weise eingeschlossen, wie in einem Schiff, das im Innern eines Vulkans eingeschlossen ist. Er kann Nemo nicht beginnen. Es macht ihn rasend, aber er fügt sich. Schließlich, fünfzehn Jahre später, schreibt er das Buch. Da
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