Ein anderes Leben
gern an. Er berichtet vom Dänischen. Dann bleibt er fort, periodenweise, scheint sich zu verbergen, kommt mit aschfahlem Gesicht zurück und vereinigt sich wieder mit dem biertrinkenden Schweden und seiner Teetasse. Man muss deuten, Zusammenhänge erahnen. Zusammenhänge zu sehen, wird immer wichtiger.
An den Abenden schreibt der Schwede Fragmente von Herrn Clausens Monologen nieder.
Herrn Clausens Leben ist wirklich nicht leer und schmerzlos gewesen . Im Vertrauen – weil der Einwanderer ja doch Schwede ist und die dänische Sprache noch nicht beherrscht und also keine Geheimnisse weiterverbreiten kann – erfährt er, dass Clausen im Alter von achtundvierzig Jahren eine Liebesbeziehung zu der Büroangestellten Gerda Hansen gehabt hat, damals wohnhaft in der Blaagaardsgade 14, Nørrebro. Die Beziehung dauerte ein Jahr. Dann kam seine Frau dahinter, und es war vorbei. Da der Schwede Dichter ist, sind seine Normen sicher freiheitlicher, und deshalb möchte er ihm dies anvertrauen.
Später macht er sich klar, dass diese Gerda Herrn Clausens Schwester sein muss, eine Information, die nicht dafür gedacht war, ihn zu erreichen.
Der Garten ist klein, sie sprechen mit gesenkter Stimme.
Herr Clausen ist vielleicht einsachtzig groß, er wiegt ungefähr hundertzwanzig Kilo und macht nicht den Eindruck, eine Dichternatur zu sein, die auf natürliche Weise in einem Inzestverhältnis mit einer Schwester gelebt hat. Wie sie dort sitzen, in dem kleinen Garten vor dem Haus Sortedam Dossering 25, zwei Männer, die sich unterhalten, müssen sie sich für die Vorübergehenden wie ein durch und durch vertrauenerweckendes Paar ausgenommen haben. Er mit seiner Teetasse mit Elefant-Bier, Herr Clausen mit seinem Tuborg und dem Aussehen eines pensionierten Wirtschaftsprüfers.
Herrn Clausens Intuition war jedoch richtig. Er hat verstanden, dass der Schwede aus dem Gleichgewicht ist, sich auf einer langen Reise befindet und der Unterstützung durch einen Wohltäter bedarf.
Der Garten, die Teetasse und Herr Clausen. Er selbst ist vierundvierzig bis neunundfünfzig Jahre alt. Hat das Gefühl, immer unklarer zu sehen, wo er sich jetzt, in der Mitte seines Lebens befindet. Er hat den natürlichen geographischen Platz für den Mittelpunkt seines Lebens aufgesucht, also Nørrebro. Von hier aus kann es in praktisch jede Richtung weitergehen.
Dies ist das Gebiet mit der höchsten Einwandererdichte in Skandinavien, ein Zentrum von Krawallen und Attentaten. Es sind die Jahre der eingestellten Revolten, doch die Einsicht, was das ›eingestellt‹ betrifft, ist nicht nach Nørrebro durchgedrungen, wo Hausbesetzungen und Demonstrationen immer noch Alltagskost sind. Wie er da in seinem Garten sitzt, mit seiner Teetasse und Herrn Clausens Bekenntnissen, ist er von Sortedam im Süden und Fælleden im Osten umschlossen ; das letztere ist jenes offene Feld, wo Johann Friedrich Struensee im Jahr 1772 hingerichtet, gevierteilt und kastriert wurde. Klassischer Boden für das Theater der Grausamkeit. Aber dieser idyllische Garten liegt an Nørrebros Vorderseite, die dem Sortedam zugekehrten Häuser sind das Feinste vom Hässlichen, wie man ihm gesagt hat, vorne Wasserfläche und Idyll, und im Rücken die Revolten und das Beunruhigende.
Er liebt Nørrebro, weil man sich dort ganz nah am Schmutz des Lebens befindet, aber – falls auf der Vorderseite – doch in Sicherheit. Nørrebro ist der gigantische nördliche Stadtteil von Kopenhagen, der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts unbebaute Fläche war, eigentlich nur kahlgeschlagene Felder nördlich der Wälle, die Schießfelder, die offengehalten werden sollten, für den Fall, dass Feinde von Norden angriffen. Schweden zum Beispiel.
Er denkt an den Feldsoldaten und stellt sich ballistische Kurven vor. Es gibt fantastische Nørrebrogemälde von reiner idyllischer Schönheit aus dieser offenen Zeit, der Mitte des 18. Jahrhunderts: aber dann plötzlich entstand ein Mangel an Arbeiterwohnungen. Man zog daraufhin in Nørrebro Mietskasernen in die Höhe, mit miserablen Ziegeln gebaut. Sie sind als Rechtecke aus fünfstöckigen Häusern konstruiert, innerhalb jedes Rechtecks ein weiteres Rechteck, und ganz innendrin ein letztes Haus.
Das war am billigsten. Wie ineinander gebaute Schachteln, die ganze Arbeiterklasse von Kopenhagen konnte dort untergebracht werden. Im Laufe der Zeit zogen die Einwanderer hierher, Inder und Pakistanis und Somalier, und in gewisser Weise auch er selbst; wenn auch an der
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