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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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Gespräch mit seiner Frau geführt, und sie hatten gemeinsam beschlossen, keinen Skandal zu veranstalten. Er war einige Jahre zuvor in Frederiksbergs Kommune politisch tätig gewesen, wo die Steuersätze bekanntlich (wenn man nur die Kommunalsteuer betrachtete) fast fünf Prozent niedriger waren als die von Nørrebro (einem gigantischen von Kanaken und Wüstenlatschern bevölkerten Stadtteil, der, Herrn Clausens Ansicht nach, durch seine niedrige oder nichtexistente Steuerbasis ein brüchiges Fundament für eine dauerhafte Wohlfahrtsgesellschaft darstellte) – und die Eheleute waren sich darin einig gewesen, dass ein Skandal seinen und Frederiksbergs bis dahin unbefleckten Ruf beschädigen würde.
    Skandal? Wenn es eine reine und unbefleckte Geschwisterliebe gewesen war? Die Geschichte hing nicht zusammen.
    Er fühlte, dass er sank.
    Die Fenster der Wohnung gingen auf den Sortedam hinaus. Er saß tagsüber an seinem Arbeitstisch und hatte den Blick starr nach draußen auf die Wasseroberfläche gerichtet. Da gab es Schwäne. Er bemerkte ihre Aggressivität.
    Oft hob er den Arm, wie um eine Taste anzuschlagen, besann sich aber.
    Genau gegenüber, jenseits des Sees, konnte er das Kommunekrankenhaus sehen und ein wenig rechts davon das Haus mit Türmen und Zinnen, in das Johanne Luise Heiberg, die legendäre Schauspielerin, über die er später Aus dem Leben der Regenwürmer schreiben sollte, sich eingeschlossen hatte. Wie seine geisteskranke Urgroßmutter Brita Margareta es einst getan und an den Wänden in einem mit dem Nagel eingeritzten Text ihr Leben aufgezeichnet hatte. Dort, auf der anderen Seite des Sortedams, hatte Frau Heiberg sich in ihren letzten dreißig Jahren eingeschlossen.
    Dort schrieb sie ihre Memoiren, › Et liv ‹.
    Wenn sie, Frau Heiberg, ihrerseits geradeaus über den See blickte, konnte sie den Platz sehen, ein Hurenhaus mit Schankerlaubnis, wo sie geboren war und wo ihre jüdische Mutter, Frau Pätges, gearbeitet hatte. Frau Heibergs Memoiren waren vor der Veröffentlichung von ihren Freunden durchgesehen und gekürzt worden, damit der Schmutz des Lebens ihrem Gedenken nicht anhaften sollte. Das Gestrichene wurde später in einem Band für sich veröffentlicht, kurze oder lange Fragmente des Verbotenen. So musste es kommen.
    Er hob den Arm, um Tasten niederzudrücken, aber nein.
    Er grübelt über Herrn Clausens Erinnerungen nach, ihre Verbindung mit dem gestrichenen Leben der Frau Heiberg. Immer unklarer, was wahr ist und was die barmherzigen Dunstschleier des Lebens sind. Frau Heiberg schien im Zenit ihres glanzvollen Lebens ihre Kraft aus dem Schmutz des Lebens gezogen zu haben.
    Eines Tages im November fegt von Westen her ein Herbststurm heran.
    Mit elementarer Gewalt bricht er in Längsrichtung des Sees herein. Er sitzt an seinem Arbeitstisch und betrachtet die Vögel, die im Sturm umhergeschleudert werden, in Panik oder im Freudentaumel. Man musste sich entscheiden, wenn man Vögel deutete, oder Dänemark oder sich selbst oder Herrn Clausen. Plötzlich sieht er zwei Möwen am Fenster vorüberfliegen: sie fliegen nach Westen, aber der Sturm ist so stark, dass sie langsam, fast unmerklich rückwärts getragen werden; er sieht ihre schweren, verzweifelten Flügelschläge, während sie vom Sturm an ihm und seinem Fenster vorbei zurückgetrieben werden – wohin waren sie unterwegs gewesen? Nach Haus? Und er sieht, wie die eine Möwe ihm den Kopf zuwendet, und weiß auf einmal, was sie ihm zu sagen versucht, ich will ja so gern, dennoch werde ich zurückgetrieben, was tue ich, hilf mir, ich möchte so gern, und es geht so schlecht!, und dann werden sie langsam rückwärts von ihm und seinem Fenster fortgetragen.
    Er hat auch eine Katze, die ist rot. Die Katze schweigt, scheint aber abzuwarten. Selbst erwacht er jeden Morgen früh und sitzt da und tut nichts und blickt über den See, der eigentlich vielleicht ein Teich ist.
    Hier befand er sich.
    In den Morgenstunden hing oft ein eigentümlicher Nebel über dem Wasser, die Dunkelheit hatte sich gelichtet, aber es lag noch eine schwebende graue Decke darüber, eine Art Widerschein des Dunkels; sie schwebte vielleicht zehn Meter über der Wasseroberfläche, die absolut glatt und still war, wie Quecksilber. Und dann die Vögel, die schliefen, eingebohrt in sich selbst und ihre Träume. Es war, als befände er sich an einem äußersten Strand, und vor ihm nichts. Es konnte sein, dass er von einem zutiefst lähmenden Schrecken erfasst wurde, dass

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