Ein anderes Leben
meistens an den Vormittagen, dauerte eine halbe bis eine Stunde, dann war es vorbei. In Momenten der Klarheit sagte Schwester Gerda, sie sei bestürzt und verwundert über das, was sie von ihrem Muhen erzählten, und sie war unglücklich darüber, Probleme zu bereiten.
Einmal ging er hinunter in ihre Wohnung, um ihr zu versichern, dass es nichts machte. Darüber freute sie sich. Er konnte nicht entscheiden, ob sie verstanden hatte, was er sagte, aber sie lächelte freundlich. Er hatte den Eindruck, mit einem ganz und gar glücklichen Menschen zu sprechen, einem Menschen aus einem Guß, und empfand zu seiner großen Überraschung bitteren Neid.
Was war der Unterschied zwischen ihnen. Eine Ungerechtigkeit. Sie durfte brüllen, er durfte begrenzte kleine Beobachtungen aufschreiben, wie die von den Möwen, die vom Sturm rückwärts getrieben wurden. Sie rührte kein Sturm.
Gegen Ende April trat Schwester Gerda zum ersten Mal heraus aus der eisblauen Grotte , nahm den Kampf mit ihrer Rivalin auf und versuchte, Herrn Clausen zurückzurufen.
So musste man es deuten. Eine andere plausible Erklärung gab es nicht. Auf jeden Fall: Es kamen Worte aus dem Nebelhorn. Zusammenhängende Sätze, Behauptungen. Draußen auf dem Hof hatte der kleine Ahorn Blätter bekommen, das Frühlingslicht war leicht, die Schwäne bewegten sich immer aggressiver und schlangen in den Paarungstänzen ihre Hälse ineinander, und wenn man durch Nørrebro ging, konnte man die Pakistani in der St. Hans gade singen hören, begleitet von ihren verblüffenden Musikinstrumenten, Melodieschleifen wie Rauchschwaden in unendlich langsamen steigenden und fallenden Bahnen.
Herr Clausen achtete sehr darauf, die Fenster zu schließen, damit niemand hörte, dass Schwester Gerda rief. Herr und Frau Clausen waren bestürzt.
Schwester Gerda ließ einer lange aufgestauten Aggressivität gegenüber Herrn Clausens Frau freien Lauf. Das war die oberflächliche Deutung. Eine andere Deutung, die er selbst vorzog, war die, dass es sich um Lockrufe durchs Eis handelte und die Rufe eine Botschaft für ihn hatten.
Du alte Hure , brüllte das Nebelhorn, und die eingefallenen, schrumpeligen Wangen, die nichts mehr von ihrer einst lockenden Rundung hatten, pumpten in einer Art Kaubewegung, unmöglich zu kontrollieren, und der Blick war weit in die Ferne gerichtet, gar nicht auf das Objekt dieses Ausbruchs von Hass und Wahrheitsleidenschaft, also Frau Clausen, friss deinen Schreißdreck selbst du alte Hure . Wenn Frau Clausen resigniert versuchte, sie zu füttern, kam Ein Luder bist du und immer gewesen, und dann setzte das Nebelhorn ein, langgezogen und glücklich und dumpf uuuuuuuuUUUUUUuuuuuuuu. Dann hielt sie inne und fuhr mit der Zunge über die Lippen, wie um zu untersuchen, ob sie nach diesen rechtmäßigen Wahrheiten noch vorhanden waren, uuuuuuuu du alte Kackwurst du hast immer nach Kacke gestunken und saurer Möseeeeeee und jetzt fand sie ein neues und geliebtes Wort, Saaaauermöööseeeee , und, nach einer Pause, du altes Luder , jetzt tiefer, das bist du immer gewesen , und dann wieder dieses bizarre glückliche Lächeln.
Herr Clausen nahm es ihr nicht übel. Sie verstanden, dass Schwester Gerda am Ende ihre Botschaft vorbringen musste, und dass sie von Liebe handelte und nichts sie jetzt hindern konnte. Was sollten sie tun. Herr Clausen konnte ja keine Matratzen vor den Fenstern anbringen. Und in der Wohnung darüber saß ja nur ein schwedischer Schriftsteller, und Herr Clausen erinnerte sich, ja, er wusste, dass man sich auf einen solchen verlassen konnte.
Herr Clausen schien von vollständiger Ruhe befallen zu sein. Man konnte glauben, dass er sich glücklich fühlte.
Er selbst ist auch glücklich, wenngleich verzweifelt.
Er liebt seine Frau, sie liebt ihn. Plötzlich unternimmt er Expeditionen, fährt einen Monat zur Fußballweltmeisterschaft in Mexiko. Er redet sich ein, dass er es noch kann. Hat er nicht einst über dieses schwedische Trauma geschrieben, die Auslieferung der Balten? Oder über die Olympischen Spiele in München! Die Luft in Mexico City sehr dünn, die Hitze enorm, er ist furchtbar müde und trinkt maßlos. In regelmäßigen Abständen schreibt er für seine Zeitung Artikel über das Geschehen. Es ist wertlos. Er erlebt alles und versteht nichts. Aus nur vierzig Metern Abstand sieht er Maradona Gottes Hand benutzen, sieht aber die Hand nicht und versteht nichts. Er kommt nach Hause, reist verzweifelt hinauf nach Bureå und schreibt, noch
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