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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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das Leben festgefroren war, zum Stillstand gekommen, dass die Bewegung aufgehört hatte; es war der alte schreckliche Traum von der Ewigkeit als einem Felsen im Meer, eine Meile lang und breit und hoch, und dem Vogel, der einmal alle tausend Jahre kam, um seinen Schnabel an dem Felsen zu wetzen, bis dieser abgetragen war. Und die Angst, dass dies nicht mehr ein kindlicher Traum war, der verschwinden würde, wenn er aufwachte, sondern dass es gerade hier in diesem Moment Wirklichkeit war, am Rand eines dänischen Teichs im Inneren von Kopenhagen. Aber manchmal gab es eine Bewegung, die ihn befreite, wie eine Entbindung; ein Vogel, der abhob, lautlos, er sah nur, wie der Vogel mit den Flügelspitzen das Wasser peitschte, freikam und abhob. Und er sah, wie der Vogel zur grauen Decke des Nebels aufstieg und verschwand.
    Die Ewigkeit hatte aufgehört, er befand sich im vollkommen Normalen, es gab keinen Felsen, und auch keine Ewigkeit. Und bestenfalls suchte ihn an diesen Morgen ein ganz konkretes, fast brutales Geräusch auf, das von dem großen dänischen Liebesmärchen erzählte, es kam aus dem Stockwerk unter ihm, wo der geheimnisvolle Kamerad Herr Clausen lebte.
    Ein Geräusch, das nicht von Herrn Clausen kam, sondern von seiner geliebten Schwester.
    So war es in Dänemark: eine äußerste Küste ohne sichtbaren Horizont jenseits des Teichs, Vögel, die aufstiegen und im Morgennebel verschwanden, und dann die Lockrufe von Schwester Gerda.
    Das Märchen von der Schneekönigin handelte davon, wie der Junge Kay einen Glassplitter ins Auge bekam und nur noch das Häßliche sehen konnte. Und dann ging er in den Eissaal der Schneekönigin und versuchte, ein Puzzle aus Eisstücken zu legen. So, ungefähr. Und wurde gerettet von Klein-Gerda.

Endlich wird ihm klar, was passiert ist. Die Puzzlestücke am Platz! Er spürt Erleichterung.
    Vielleicht wird er sehr bald aufzeichnen können.
    Man war übereingekommen. Was zwischen den dreien in Herrn Clausens Familie vorgefallen war, war ausgestrichen worden. Es war gelöscht, existierte nicht. Selbstverständlich sprach man nicht mehr davon. Man ging miteinander um wie vorher. Herrn Clausens Schwester kam wie früher. Man konnte ihre kleine fleischige Hand oft den Tisch decken, sich aber nur um das Glas schließen sehen. Sie massierte die kleine Katze Semiramis, weich und sensibel.
    Plötzlich hatte sie eine Gehirnblutung, die sie teilweise lähmte. Herr Clausen und seine Frau beschlossen da, Schwester Gerda zu sich zu nehmen und in ihrer Wohnung in der Sortedam Dossering 25 zu pflegen.
    Sie legten sie ins Gästebett, mit Kissen abgestützt. Nach und nach begann sie zu gehen, gern in kleinen Kreisen im Wohnzimmer. Sie mochte es am liebsten, wenn es im Kreis ging.
    So begannen sie die Pflege von Schwester Gerda.
    Die letzten Jahre hatten ihren etwas rundlichen Wangen schwer zugesetzt.
    Ihr Haar war grau und ziemlich dünn, das Gesicht ein wenig eidechsenhaft jetzt, da sie an Gewicht verloren hatte; wenn man Herrn Clausens Wohnung betrat, war sie im Halbdunkel kaum sichtbar, wenn man aber hinschaute, sah man, dass ihre Augen rotierten und ständig im Kreis gingen; es war vielleicht eine Gehirnblutung gewesen, aber sie ging sicher einher mit einer Form von beginnender Senilität. Als er sie das erste Mal sah, konnte sie ein Gespräch führen, ruhig und fast verständlich, wenn auch nicht durchgehend von Interesse. Anfang Mai setzte eine absonderliche Verschlechterung ein.
    Schwester Gerda hatte angefangen zu rufen.
    Zunächst verstand wohl keiner im Haus, auf jeden Fall nicht der Schwede in der Wohnung darüber, die Natur der muhenden Laute, die sie ausstieß. Es klang nicht, als hätte sie Schmerzen, wohl aber, als wäre sie in die Rolle einer Schiffssirene geschlüpft; solche konnte man bei dichtem Nebel vom Sund herüber hören. Ja, es klang wirklich wie die Nebelhörner der Schiffe jenseits der Langelinie: heiser, muhend, affektfrei, Mmmmmmmååååååååå , röhrte sie mit überraschend tiefer und männlicher Stimme, ooooMMMMMMmmååååå , ein weiches Muhen, das vielleicht acht Sekunden anhielt und dann plötzlich abbrach. In den Pausen soll sie ganz still gesessen und freundlich vor sich hin geblickt haben. Dann setzte das Röhren wieder ein.
    Da er am nächsten wohnte und tagsüber zu Hause war, vertraute Herr Clausen sich ihm an. Konnte man es hören? Fand er es störend? Nein, es machte ihm nichts aus. Herr Clausen sagte, er wisse das zu schätzen. Das Muhen kam

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