Ein anderes Leben
von sich, müde und sauer, benutzt gern ein paar scharfe Argumente, die seine Belesenheit die Beziehung des frühen Freud zu Charcot betreffend beweisen, er ist auch darin Experte . Eine Analyse machen? Er versucht es, gibt aber freiwillig schon nach acht Sitzungen auf, teilweise weil er sich von der Analytikerin immer stärker angezogen fühlt. Sein Problem muss deshalb auf medizinisch probatem chemischem Weg angegangen werden. Zu sagen, dass er aufhören sollte zu saufen, ist ja viel zu einfach, fast unwissenschaftlich.
Währenddessen stürzt er immer tiefer.
Er findet großes Vergnügen an diesen langen analytischen Gesprächen mit skandinavischen Ärzten, die sämtlich beeindruckt sind von seiner Klarsicht und ihm dann auch violette Tabletten verschreiben. Er weiß sehr bald, dass die Tabletten wirkungslos sind, abgesehen davon, dass sie neue und interessante Entzugserscheinungen auslösen. Er sieht auch ein, dass er es nicht auf die Verschreibungen der Ärzte schieben kann: die Verantwortung liegt bei ihm. Besonders weil er glücklicherweise so extrem klarsichtig ist. Seine Belesenheit in der internationalen Forschung über die schädlichen Wirkungen des Alkohols und deren Ursachen nähert sich inzwischen dem Expertenniveau, und er weiß, dass die Forscher sich wirklich nicht einigen können oder eindeutige Antworten geben können, also fährt er mit den Experimenten fort.
Das ist das einzig Spaßige: Sich als Versuchstier zu betrachten und gleichzeitig zu durchschauen. Er verachtet diejenigen, die ihre Situation nicht durchschauen können; er durchschaut – und säuft weiter.
Selbstverständlich empfiehlt man ihm, Antabus zu nehmen, im übrigen eine dänische Erfindung aus den fünfziger Jahren, ein Mittel, das durch Zufall bei Experimenten mit Arzneien gegen Hautekzeme gefunden wurde.
Diejenigen, die glauben, Antabus könne ihn retten, unterschätzen jedoch seine Charakterstärke.
Er wird sich von dieser dänischen Tablette nicht besiegen lassen. Er nimmt die Tablette am Morgen, wartet ruhig einige Stunden ab und trinkt gegen elf Uhr ein Bier. Sein Puls steigert sich, das Gesicht nimmt eine leicht rötliche Färbung an, doch er ermannt sich, und um ein Uhr trinkt er ein Elefant-Bier und zwei Stunden später noch eins. Das Stechen im Körper wird immer heftiger, die Gesichtsfarbe immer röter, doch er weicht nicht, er ist fest entschlossen, dieses Kräftemessen zu gewinnen. Er wird sich durch Die Dänische Tablette trinken. Das Herz schlägt intensiv, doch er hegt Vertrauen in seine Holzfällergene und in die von der Mutter geerbte Willensstärke. Er kontrolliert regelmäßig den Puls, daran ist er von seiner Zeit als aktiver Sportler gewöhnt, und vom Intervalltraining; der Puls schießt mächtig in die Höhe, aber es gilt, ihn nicht über hundertzwanzig Schläge in der Minute steigen zu lassen.
Er hat einen Ruhepuls von normal siebzig.
Viele Jahre später werden zwei Herzoperationen an ihm vorgenommen, bei denen Herzkranzgefäße mittels einer sogenannten Ballonsprengung erweitert werden. Er macht sich wegen dieser Operationen keinerlei Sorgen, weil er weiß, dass sein Herz stark ist und den Kampf gegen Antabus ausgehalten und so die Probe bestanden hat, und deshalb wird dies jetzt auch klappen.
Gegen 19 Uhr hat er den Kampf gegen Die Dänische Tablette gewonnen, er ist schwer und natürlich lebensgefährlich gewesen, aber die roten Flecken in seinem Gesicht haben sich abgeschwächt, der Puls ist zurückgegangen auf zwischen achtzig und fünfundachtzig, sein starker Charakter hat gesiegt, und er kann anfangen, wieder Wein zu trinken.
Er sinkt.
Wenn er betrunken ist, wird er nie gewalttätig oder aggressiv, eher sanft und abwesend. Das Leben geht langsamer und ist eingebettet. Er gibt sich Tagträumereien hin über das Leben, das er führen könnte, wenn es eine Alternative gäbe, wenn alles anders wäre. Er ist ein normativer Tagträumer, er trinkt sich in eine mögliche Zukunft, schläft gern ein, wacht eine Stunde später mit einem eiskalten Spieß im Herzen auf, dem ist mit einem Wasserglas Rotwein abzuhelfen, er ahnt, dass der Promillegehalt zu schnell abgesackt ist, und träumt von dem Tag, an dem er eine Apparatur anschaffen kann, um den Pegel zu kontrollieren und Kurven zu zeichnen. Er liebt es, allein zu trinken, will nicht zusammen mit anderen trinken, er will versinken und träumen, gern von Büchern, die er fast ganz sicher schreiben wird. Er sieht sie vorher .
Und er schreibt
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