Ein anderes Leben
wirklich, manchmal, in kurzen Perioden, fast in Minuten zu zählen. Er weiß, dass er mit Alkohol im Blut nie etwas schreiben kann, das taugt ; manchmal kommen jedoch einige nüchterne und eiskalte Morgenstunden von großer Klarheit, dann kann er schreiben. Mitte der achtziger Jahre schreibt er in diesen Morgenstunden einen Roman von hundertvierzig Seiten, den er Gestürzter Engel nennt. Zu mehr reichen diese Stunden oder eher Minuten nicht. Es wird eigentümlicherweise einer seiner besten Romane. Sein Gehör scheint noch nicht beschädigt zu sein. Er weiß, dass er etwas besitzt, was man das absolute Gehör der Prosa nennen kann, es reicht für einen Kurzroman. Er weiß, dass es vielleicht der letzte ist.
Er betrachtet sein Sinken mit humoristischer Klarsicht, weil er etwas anderes nicht erträgt. Die Trauer würde ihn umbringen: Und warum nicht, er sieht dies bald als eine Alternative, verlässt sich aber bis auf weiteres auf Galgenhumor.
Wenn nur seine Frau und seine Kinder nicht so verzweifelt wären. Sie scheinen von der Heiterkeit seiner Verzweiflung gar keine Kenntnis zu nehmen.
Was soll er tun.
Es gab kein Sjön 3 in Paris.
Dass er zu dem grünen Haus und den Blutegeln regredierte, half ihm wenig. Er konnte sich nicht in einem grünen Haus verstecken. In Paris gab es dagegen alles andere, einen Reichtum an Kultur und Ereignissen, aber er hat aufgegeben, starrt an die Wand, schläft. Dieser Reichtum befindet sich außerhalb der Blase, in die er sich zurückgezogen hat. Er kann keinen Gebrauch davon machen.
Sie kehren von Paris nach Kopenhagen zurück, seine Frau zur Arbeit als Leiterin der Abteilung Film beim neu gestarteten TV2. Er selbst kehrt zu einfach nichts zurück, außer dem erhobenen Arm, der sich trotz eines männlich und bedrohlich gereckten Mittelfingers weigert, auf die Tasten zu fallen. Sie wohnen jetzt in dem schönen Haus in Hellerup, das sie nach ihrer Rückkehr gekauft haben.
Alles ist ja so vollendet.
Seine alten Stücke werden weiterhin überall in der Welt gespielt, und davon kann er ohne Schwierigkeit leben; er verreist oft zu immer planloseren Besuchen bei Proben seiner Stücke. Er quillt auf, wiegt hundertsechs Kilo, es ist nicht schön, sein Normalgewicht ist sechsundachtzig.
Nach der glanzvollen Premiere von Verdunkelung in Würzburg – war es Würzburg? etwas mit W war es auf jeden Fall – ist ein schwarzes Loch. ›Verdunkelung‹ war der deutsche Titel von Till Fedra , dem Stück, das offenbar so viele großartige ältere Schauspielerinnen lockt, die keine ihrem Alter und ihrer Begabung entsprechenden Rollen finden. Bei der Premiere hat er wie gewöhnlich auf dem nachfolgenden Fest große Zurückhaltung gezeigt, ist fast ganz nüchtern, wird zu Recht von den begabten Schauspielern gefeiert, keine Depression in Sichtweite.
Dann schwarz. Etwas muss passiert sein.
Zwei Tage nach dieser Premiere – er erinnert sich nur vage an das, was geschah, aber die Tage, sie schwinden so schnell – zwei Tage später wacht er auf einem Rangierbahnhof in Hamburg in einem Abteil eines stillstehenden, abgehängten Waggons auf, in dem er offenbar die Ankunft verschlafen hat und alleingelassen worden ist. Dort wacht er auf. Vielleicht zwei Tage später, oder drei? Er hat keine Vorstellung davon, wie er in den Zug gekommen ist in diesem – Würzburg hieß es wohl. Dortmund? Jemand muss ihm geholfen haben.
An der Zeit, sich zusammenzureißen, denkt er.
Er wagt es nicht, den Wohltäter anzusprechen, weil dieser dann bestimmt etwas mit scharfer Stimme erwidern würde, und er sich schämen müsste.
Er schwankt über das Gleissystem des Rangierbahnhofs in Hamburg und denkt: ich bin allein gelassen .
Sie wollten ihm ja alle helfen. Es heißt Intervention. Man wartet dann einen Augenblick ab, wenn er fast bewusstlos und deshalb kooperationsbereit ist; es heißt Intervention.
Sie brachten ihn in die Abteilung M 87 des Krankenhauses Huddinge, soweit bekannt das einzige Krankenhaus in Schweden, in dem Alkoholiker nach dem Minnesota-Modell behandelt werden; es gab eine Reihe privater Kliniken, aber diese Institution unterstand dem Landsting von Stockholms Län. Die Abteilung konnte sechzehn Patienten aufnehmen und war einzigartig; dies wurde von der Leitung der Abteilung oft wiederholt, mit einem drohenden Unterton, weil die Pflege von Alkoholgeschädigten im schwedischen Gesundheitswesen nicht als vorrangig angesehen wurde, oder eher vollständig vernachlässigt war. Die Abteilung M 87 war
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