Ein anderes Leben
also einzigartig, und man sollte Dankbarkeit empfinden und sich deshalb unterwerfen. Eine Faustregel besagte, dass zirka zehn Prozent der schwedischen Bevölkerung an mehr oder weniger starken Alkoholproblemen litten. Der Einzugsbereich des Krankenhauses Huddinge umfasste hundertsechzigtausend Menschen, das bedeutete nach derselben theoretischen Faustregel, dass sechzehntausend Patienten eine Behandlung nötig hatten, aber auf der M 87 wurden nur sechzehn Menschen behandelt.
Sie waren das privilegierte Promille.
Diese Auserwählten konnten nicht nur als privilegiert bezeichnet werden, sie sollten dies auch in ihrem Herzen spüren; ja, sie waren tatsächlich in diesem Januar 1989 die einzigen sechzehn in Schweden, die in der öffentlichen, also nicht privaten Krankenpflege einer Behandlung ausgesetzt waren.
Hierüber wurde er später informiert. Sowie darüber, dass jeder in der M 87 aufgenommene Patient den Steuerzahler für eine Behandlung von fünf Wochen zweiundachtzigtausend Kronen kostete. Nach damaligem Geldwert.
Dorthin wird er gebracht. Sie wollen ihm ja alle helfen.
Während der Zeit in der M 87 in Huddinge führt er Tagebuch.
Der Text aus den ersten Tagen ist am Anfang äußerst schwer zu deuten; er schreibt mit Bleistift, mit zitternder Hand, aber schon nach zwei Tagen wird alles viel deutlicher; als er Kind war, in den vierziger Jahren, musste man lernen, in Druckbuchstaben zu schreiben, bevor man richtig schrieb. Es war eine Bestimmung der obersten Schulbehörde, die später geändert wurde; es sollte fürs ganze Leben sein. Wie deutlich er schrieb! fast zutulich deutlich! Ging deshalb alles so, wie es ging? denkt er in einem seiner scherzhaften Momente.
Die erste Seite kann nicht am ersten Tag geschrieben worden sein. Wie auch immer, der Text hat, zitterig oder nicht, folgenden Wortlaut:
Sonntag. Wilde Panik in Kopenhagen. Jenny und Mats telefonieren herum und drohen damit, herzukommen. Johan Liljenberg redet mit Lone, verspricht Platz, wenn ich komme. Ich habe sehr unklare Begriffe von Kontinuität, verschiebe dreimal den Flug. Werfe L vor, mich wie ein Kind zu behandeln, mir den Willen nehmen zu wollen. Trickste sie bei drei Abflügen aus. Am Abend um 8 Uhr Huddinge. Habe 1,91 Promille. Bekomme Pillen, kann aber nicht schlafen. Schlafe zwei Stunden in der Nacht. Die Hölle brennt.
Zwei Uhr, muss geschlummert haben. Erwache mit der entsetzlichen Einsicht, was geschehen ist.
Nachdem er die M 87 verlassen hat, schreibt er rasch detailliertere Deutungen des Tagebuchs nieder.
An die Fahrt nach Stockholm erinnert er sich natürlich nicht.
Es heißt, dass eine seiner besten Freundinnen, Margareta Strömstedt, Lone und ihn in Arlanda abholt und nach Huddinge fährt. Er soll gebrabbelt haben und widerspenstig gewesen sein, manchmal überraschend einsichtig, aber den größten Teil der Fahrt im Auto geschlafen haben. Er erinnert sich vage an Stimmen, die zu ihm sprechen, denkt: wie ein Kind .
Dann wird er eingewiesen und überlassen.
Die Blutprobe zeigt 1,91 Promille, die Schwester erzählt, dass der vor ihm angekommene Patient, die Aufnahme der vorausgegangenen Woche, Arne hieß er, 3,2 Promille gepustet, ihr aber erklärt habe, er sei nur aufgrund eines Irrtums auf der M 87 gelandet und fühle sich pudelwohl. Sie scheint damit sagen zu wollen, dass ein unwirsches Auftreten und hoher Promillegehalt sowie Mangel an Selbsteinsicht für die Insassen normal sind.
Er ist anscheinend auch mit Lärm und Getöse eingezogen. Nach der Einweisung und Überlassung wird ihm vorübergehend ein Untersuchungszimmer mit einem Bett zugeteilt, von dem er glaubt, dass es sich um einen Gynäkologenstuhl gehandelt haben kann. Man befürchtet anscheinend, dass er sich erbricht. Er schwitzt fürchterlich. Ohne größeren Widerstand zu leisten, wird er in den Gynäkologenstuhl gepresst, legt aber Selbständigkeit und Normalität an den Tag, indem er aufsteht und im Pyjama Stunde um Stunde in einem Korridor auf und ab geht.
Man sagt, er sei diskret und verzweifelt gewesen und habe um Tabletten gebeten und gebettelt, um schlafen zu können. Ein Pfleger, der behauptet, Ungar zu sein, gibt ihm Vitamin-B-Spritzen. Er versucht zu schlafen, wacht aber mit der entsetzlichen Einsicht, was geschehen ist , wieder auf.
Er beginnt es jetzt zu verstehen. Der Fall ist ja so groß, der Abgrund so tief.
*
Eine Woche zuvor hat er an Det Kongelige vor der Premiere von In der Stunde des Luchses , dem Stück über den internierten
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