Ein anderes Leben
wird nicht weitermachen mit der Studie über den Einfluss Freuds auf Strindbergs Traumspiel . Er hat gespielt, und die Wirklichkeit hat ihn eingeholt. Er hat in dem verspäteten Kindheitszimmer gesessen und ist glücklich gewesen, alles ist wie nach Plan gelaufen. Dann öffnet er plötzlich die Tür und tritt hinaus auf einen grell beleuchteten Platz, wo er ungeschützt zu stehen glaubt, und in der Mitte.
In der Dramatik nennt man es Pivot , hat er gelernt. Das bedeutet Schwenkzapfen. In diesem Fall ein Roman, den er schreibt. Er sitzt in einem alten Einfamilienhaus in Graneberg in Uppsala; er stellt einen Tisch und einen Stuhl in den Heizkeller, es ist sehr eng, aber ganz geschützt. Keiner sieht ihm über die Schulter auf das, was er schreibt. In der Einsamkeit des Heizkellers kann er Stück für Stück einer furchtbaren Wirklichkeit zusammensetzen. Taugt er? Hatte Rektor Nilsson recht? Was er schreibt, gleicht nichts von dem, was er selbst bisher gelesen oder geschrieben hat. Er bewegt sich auf unbekanntem Gelände. Was hat er zu verlieren?
Er hat auch keine Angst.
Hinterher weiß er nicht genau, wie es zugegangen ist.
Im Frühjahr 1966 flog er nach New York zu einem PEN-Kongress, fuhr weiter in die Südstaaten, folgte dem ›Freiheitsmarsch‹, der von James Meredith am 5. Juni in solitärer Einsamkeit angetreten worden war. Diesem war aufgrund seiner Hautfarbe der Zugang zur Universität in Mississippi verweigert worden; auf seinem einsamen Protestmarsch wird er von einem Heckenschützen niedergeschossen. Martin Luther King, Stokely Carmichael und einige tausend Menschen nehmen den Staffettenlauf auf.
Mit dem Bus durch die Südstaaten, warum will er den Zug von Demonstranten einholen? Er weiß es nicht. Das ist das Problem.
Die Geschichte überschlägt sich hier, in diesem Jahr 1966, angefangen beim Kampf gegen die Rassentrennung in den Südstaaten, über Vietnam, bis zur Dritten Welt. Meredith wird angeschossen, erholt sich aber wieder, andere setzen den Demonstrationszug fort. Er schwillt an. Während einer Marschpause in Greenwood, Mississippi, hält Stokely Carmichael die historische Rede, die den Beginn der Schwarze-Panther-Bewegung markiert.
Er holt die Marschkolonne ein. Es ist furchtbar heiß.
Eine Lkw-Ladefläche mit schwerbewaffneten Schwarzen Panthern gleitet bedrohlich an ihm und den Marschierenden vorbei; er fühlt sich unschlüssig. Ist er Teilnehmer oder Betrachter? Was tut er überhaupt hier, an den drei letzten Marschtagen?
Er befindet sich – das sollte später viele Male wiederholt werden – mitten im Zentrum eines vielleicht historischen Geschehens, und versteht es nicht. Juni 1966.
Ein Entschluss reift.
Er hat einen Aufenthalt eingelegt auf seinem Weg.
Dort, bei einem Abendessen in Oak Ridge und während eines Gesprächs über den Vietnamkrieg, sagt jemand, ein Amerikaner, der in Schweden gewohnt hat, plötzlich und mit unerwarteter Aggressivität, dass die Schweden die einzigen transportablen Gewissen in der Welt haben, sie fahren als professionelle Moralisten herum, sie sprechen nie über ihre eigenen moralischen Konflikte, den Transitverkehr, die Auslieferung der Balten .
Die Auslieferung der Balten? Er erinnert sich, schon als Kind davon gelesen zu haben, es stand im Norran .
Es schien fürchterlich zu sein. Man lieferte Menschen, die nach Schweden geflohen waren, an die Russen aus, die sie hinrichten würden. Wer die Russen waren, wusste er ja, weil er die Insel Ryssholmen im Hjoggböleträsk kannte. Es hieß, dass dort sechs russische Soldaten begraben lägen. Sie waren in irgendeinem Krieg im 18. Jahrhundert von den mutigen Bauern im Dorf ermordet worden. Es hieß, auf dem Holm gäbe es unzählige Kreuzottern. Er war niemals dort an Land gegangen, obwohl er viele Male in Großvaters schwerfälligem Kahn um den Holm herumgerudert war. Russen zu fürchten, gab es Gründe. Und jetzt sollten unschuldige Soldaten an die Russen ausgeliefert werden.
Mehrere hundert. Eigentlich sind es noch mehr; dreitausend deutsche Soldaten werden auch ausgeliefert, aber nach denen fragt niemand.
Er verstand vielleicht wenig, aber der Begriff die Auslieferung der Balten saß in ihm fest. Alle reden jetzt, Mitte der sechziger Jahre, vom Vietnamkrieg, doch etwas in ihm sagt stopp. Man kann nicht die Sünden anderer bekennen. Man muss seine eigenen ansehen, und nicht nur vor der Samstagsandacht. Nicht als Schwede bußfertig um Vergebung bitten für den amerikanischen Imperialismus. Gleichsam
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