Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
Vom Netzwerk:
Ministerpräsident Per Albin Hansson, derjenige war, der am klarsten und am entschiedensten hinter dem politischen Beschluss, also der Auslieferung stand.
    In einem Brief vom September 1968 – sie sollten später viele Briefe wechseln und eine Art Brieffreundschaft etablieren – fasst er seine Eindrücke von der Lektüre des Romans zusammen. ›PO – du hast ein furchtbares Buch geschrieben. Die Balten und die Auslieferung und einzelne Personen, die an den Ereignissen teilhatten, werden beispielhaft dafür, wie die Menschen und ihre Gesellschaften sich gegenseitig zerreißen. Man ist gezwungen, alles aufs neue zu erleben, wenn die Fähigkeit zu vergessen während des Lesens dahinschwindet. Die Schicksale der ganzen Schar lebender und einst lebender Menschen haben den Ausblick auf die ganze dahinterliegende Zeit, die Zerstörungen der Kriegszeit und der Nazizeit eröffnet, all das, was mich dazu veranlasst, dein Buch furchtbar zu nennen.‹
    Es war ja unmöglich, frei zu werden von der Geschichte um die Auslieferung der Balten, wenn man dabei gewesen war.
    Man fasst einen Beschluss, und die Dominosteine stürzen vorwärts in die Geschichte. Seminarstudium in Umeå oder hinausgeschleudert werden in die Welt? Kurios, wenn es das Private betrifft, aber hier fielen die Leben anderer Menschen.
    Wigforss, dieser sanfte, helle Humanist, dessen Memoiren er gelesen und bewundert hatte, quälte sich ja. Die Verantwortung in diesem Beschlussjahr 1945, als er in der Regierung saß, war zum Teil seine gewesen. Schweden war nach seiner Nachgiebigkeit gegenüber Hitlerdeutschland in den Kriegsjahren moralisch belastet, und Wigforss war wie viele in der Sozialdemokratie der Meinung, dass die Sowjetunion, die so hart getroffen war und vierzig Millionen Menschen im Krieg verloren hatte, die schwersten Opfer für den Sieg gebracht hatte. Die Sowjetunion durfte jetzt nicht als ein Staat der Rechtlosigkeit hingestellt und anders behandelt werden als die übrigen Alliierten.
    Wigforss war in die Geschichte geworfen worden und kam nicht heraus, wie auch der junge Untersucher hineingeworfen werden sollte und die Geschichte damit sein Leben veränderte. Es war eine ungeklärte schwedische Schuld, die schmerzte. Wenn es denn eine Schuld war. Auf jeden Fall ein schwedisches Dilemma.
    Das blieb zu untersuchen. Das Ungewöhnliche war, dass das Projekt auch einen Untersucher durchzuschleppen hatte, der sich, vollkommen offen, als Fehlerquelle bezeichnete. Die lange Reihe von Interviews, die er machte, umfasst also nicht nur die Ausgelieferten, seien es die im westlichen Exil oder die jetzt in der Sowjetunion lebenden, sondern ebenso in die Ereignisse verwickelte Offiziere, Lagerwachen, Meinungsbildner und Leitartikelschreiber, Pastoren und Militärs, sowie sämtliche noch lebende politische Entscheidungsträger. Letztere erwiesen sich alle vereint in der Angst vor der Frage. Der Fall rührt etwas auf; etwas, an das nicht gerührt werden sollte. Und wer ist jetzt dieser junge Autor, der an ihre nächtlichen Alpträume rühren wird?
    Er findet sich in das Leben von Menschen geworfen. Keine historischen Gestalten, sondern lebende, denen man noch wehtun kann. Er versucht, die Mechanismen einer politischen Krise freizulegen, aber die Reinheit in diesem Spiel wird ständig von menschlichem Leben verdeckt.
    Man muss achtsam sein.

Er hält sein Projekt nicht geheim. Er sagt, was er vorhat, über die Auslieferung der Balten zu schreiben, und sehr bald entdeckt er, dass er sich auf vermintem Gelände befindet.
    Der innenpolitische Aspekt ist heikel. Die Auslieferung wurde zwar von der Koalitionsregierung der Kriegsjahre beschlossen, aber es war die sozialdemokratische Regierung, die sie neun Monate später bewerkstelligte, gegen den Druck der öffentlichen Meinung. Und dies trotz immer klarerer Einsichten bezüglich der spezifischen Bedingungen, die sicher für sowjetische Bürger aus dem Baltikum gelten würden, die in dem Großen Vaterländischen Krieg auf der falschen Seite gekämpft hatten, in der Waffen-SS.
    Kurz gesagt: Hinrichtung als Landesverräter.
    Die Auslieferung war eine Belastung für die Sozialdemokratie und sollte es bleiben. Er spürt auch, wie sich sogleich Misstrauen breitmacht. Es geht eigentlich um seine Ehre. Würde er, offensichtlich ein Linker, außerdem seltsamerweise auch Sozialdemokrat, jetzt ein sozialdemokratisches Weißbuch fabrizieren , das den Skandal entschuldigte, die Schuld abwusch und den kommunistischen Henkern in

Weitere Kostenlose Bücher