Ein anderes Leben
den Arsch kroch ? Das ist der Vorverdacht.
Fern liegt jetzt die geschützte Einsamkeit des Romanautors, der gemütliche Narzissmus, die Ruhe im Dunkel des geschlossenen Arbeitszimmers. Die Sicherheit des historischen Romans, 18. Jahrhundert und Magnetiseure. Das Material ist eine Feuerqualle.
Er ist nicht unbegabt und nicht unsensibel, und seine Ehre ist ihm wichtig. Aber wie erreicht er Reinheit ? Er kennt die Risiken: Er wird nicht nur verdächtigt, eine sozialdemokratische und sowjetische Ehrenrettung zu produzieren, und wird deshalb seine Ehre verlieren, sondern auch das Gegenteil ist denkbar: Dass er, um seine Integrität noch glänzender zu polieren, den Mord an den Mördern vollbringt, egal wie die Wirklichkeit aussieht.
Hier begegnet er auch zum ersten Mal dem Exil, nicht seinem eigenen, sondern ihrem.
Die zivilen Balten hatten ja auch ihre Dörfer gehabt, die sie verließen. Er hätte es vielleicht verstehen müssen. War es das Dorf, das das Exil in seinem Bauch verbarg? Oder war es umgekehrt?
Eine Expedition in ein schwedisches Trauma. Vom ersten Augenblick an ist schmerzlich greifbar, dass er in eine baltische Exilwelt geworfen wird, die voll von Gegensätzen ist.
Die Welt der Exilanten ist rätselhaft, eine gefühlsstarke Explosion, er weiß nicht, ob er reif ist für diese Hitze. Es waren ja nicht nur die Militärbalten, die in diesem letzten Kriegsjahr übers Meer gekommen waren. Es waren vor allem die zivilen Flüchtlinge. Die drei baltischen Staaten, abwechselnd von der Sowjetunion und von Hitlerdeutschland besetzt, hatten so gut wie alles miterlebt. Nicht zuletzt Säuberungen, Völkermord und unter der deutschen Besetzung den effektivsten Holocaust, den irgendein europäisches Land erlitt, teilweise unter Mitwirkung der Besetzten selbst, mit einer Judenausrottung, die achtundneunzig Prozent überstieg.
Als die Rote Armee im Herbst 1944 nach Westen rollte, begann die Massenflucht. Sie kamen in kleinen Booten über die Ostsee, und sie waren viele. Er merkte sich als Faustregel: vierzigtausend zivile Esten, viertausend Letten, vierhundert Litauer.
Und jetzt befanden sie sich in Schweden, und was sollte mit ihnen geschehen?
Eigentlich wusste es niemand. Unausgesprochen herrschte unter schwedischen Politikern im Sommer 1945 die Vorstellung, dass sie in die Sowjetunion zurückgeschickt werden sollten. Es gab gleichsam ›keine Veranlassung‹, sie bleiben zu lassen; man wartete nur auf eine sowjetische Note, und die musste mit Verständnis aufgenommen werden, wenn auch nicht mit Enthusiasmus. Schweden hatte ja gegenüber dem Sieger eine Schuld zu begleichen. Die Sowjetunion hatte Schweden vor den deutschen Horden gerettet, trotz des schwedischen Transitverkehrs, des Eisenerzes und der Kugellager zur Unterstützung der deutschen Kriegsanstrengungen. Wenn die Sowjets die zivilen Flüchtlinge zurückhaben wollten – keine Frage.
Doch dann kommt es zum Sturm wegen der Militärbalten. Eine kleine Gruppe, am Anfang hundertsiebenundsechzig Soldaten, und noch dazu Waffen-SS! Der Sturm tobte ihretwegen. Und wenn SS-Soldaten dieses Mitgefühl wecken konnten, was würde dann erst passieren, wenn es um Zivilpersonen ging?
Die Auslieferung der Balten ließ die schwedische Regierung die Struktur des verminten Geländes erkennen.
Das galt vielleicht auch für die sowjetische Seite. Die Debatte um diese hundertsiebenundsechzig vermittelte der Sowjetunion eine strategische Einsicht. Das Dach würde einstürzen, wenn auch die zivilen Flüchtlinge ausgeliefert würden, Unmengen politischen Blutes würden vergossen, die Beziehungen zwischen Schweden und der Sowjetunion wären auf lange Zeit zerrüttet. Dass die Gefahr der Auslieferung für die Zivilisten real war, ist eine Tatsache: Es war ja nicht nur Schweden, das in diesem ersten Friedensjahr Menschen an die Sowjetunion auslieferte. Rundum in Europa spielten sich viele entsetzliche Tragödien ab, zum Beispiel als die englische Regierung mit Churchill und Eden als den Hauptverantwortlichen – und mit der Achten Armee als ausführendem Organ! die legendäre Achte Armee! – siebzigtausend Kosaken und Jugoslawen, die in der deutschen Armee gedient hatten, an die Sowjetunion auslieferten. Nicht nur Soldaten: Frauen und Kinder gleich mit.
Tausende Selbstmorde, von den Siegern in ihrer Geschichtsschreibung systematisch verschwiegen.
Oder die Tragödien, als die Vlasow-Armee ausgeliefert wurde, die auf deutscher Seite gekämpft hatte, die Deserteure und die in
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