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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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Gefangenschaft geratenen Rotarmisten. Über eine Million. Auch sie, begleitende Zivilisten eingeschlossen, wurden ausgeliefert.
    Aus jedem Blickwinkel war der Sturm um die hundertsechsundvierzig eine Lektion.
    Es wurde nie ein die zivilen Flüchtlinge betreffender Antrag gestellt. Die Baltenauslieferung kam dazwischen.
    Dann sollten jene, die bleiben durften , es auch wirklich wissen. Die Zurückbleibenden sollten einsehen, dass die Auslieferung sie eigentlich gerettet hatte, dass sie alle eine Dankesschuld gegenüber jenen hundertsechsundvierzig hatten. Während die Jahre vergingen, hielt sich diese Einsicht, sie ähnelte der Schuld, die Überlebende aus den Konzentrationslagern verspüren konnten: Warum bin gerade ich gerettet worden? Es war ein Vergleich, der nie benutzt wurde, Waffen-SS und Konzentrationslager!, aber man wurde an diese Schuld erinnert. Und dass Schweden eine Schuld hatte. In gewisser Weise war diese Schuld eine politische Kraft, von der sie hofften, sie würde ihre Existenz in dem neuen Land legitimieren. Und auf jeden Fall dürfte die Geschichtsschreibung nicht revidiert werden.
    Zwanzig Jahre war diese nicht angetastet worden. Wie es den Ausgelieferten erging? Alle hingerichtet .
    Es konnte wahr sein oder nicht wahr sein. Aber tief im Innern des Bewusstseins der zivilen Flüchtlinge gab es auch die Trauer über drei Heimatländer, die verlorengegangen waren, die Trauer der aus dem Dorf Vertriebenen , und dies während einer Besetzung, die niemand in dem neuen Land Schweden hinterfragte. Tatsächlich schien sich niemand an die Namen der drei kleinen Länder zu erinnern, Estland, Lettland und Litauen. So nah, fast sichtbar von der Küste Gotlands aus. Aber absolut nichtexistent. Die Bitterkeit stieg manchmal an die Oberfläche, aber auch eine Schuld gegenüber jenen, die ausgeliefert worden waren.
    Ausgeliefert, damit andere die Freiheit behielten.
    Der Mythos von der Baltenauslieferung war intensiv gegenwärtig und vollkommen wahr, unabhängig davon, was wirklich passiert war. Die Schuld war festgelegt und wurde nicht dadurch bestimmt, wie die Schicksale der Ausgelieferten ausfielen. Und da kommt dieser naive junge Schriftsteller daher und erklärt, ein Buch darüber schreiben zu wollen, was eigentlich geschah .
    Eigentlich? Es war wirklich vermintes Gelände. Glück für ihn, dass er nie von Erwartungen belastet worden war. Er bewegte sich nur leicht, ohne zu zaudern, mit einem zynischen Funkeln in den Augen, über das Minenfeld.
    Die Augen der Vertriebenen betrachteten ihn mit Trauer, Misstrauen, Hoffnung, dass er verstehen würde, und manchmal mit Hass. Pivot bedeutet Schwenkzapfen.

Wir werden Blut an den Händen haben!‹
    Dies sagte einer der für die Auslieferung verantwortlichen Minister, Nils Quensel, während einer Kabinettssitzung. Der Untersucher – er identifiziert sich rasch mit diesem Etikett – sucht Quensel natürlich auf, als einen von vielen.
    Nicht ohne eine gewisse Neugier.
    Quensel ist ein Roman an sich, er ist später in die Haijby-Affäre und in die Kejne-Affäre verwickelt, er ist von Gerüchten umgeben. Ihm wurde nachgesagt, sich als Jurist und beratender Minister allzu intensiv um die Erziehung von Jungen gekümmert zu haben, die auf dem Weg in die Kriminalität waren; er hatte sie in sein Dienstzimmer gerufen und ihnen mit aller Strenge ins Gewissen geredet, und wenn sie ihm allzu mager erschienen, hatte er sie angehalten, ordentlich zu essen. Er soll kontrolliert haben, dass sie ihr Gewicht hielten , und ihnen befohlen haben, sich auszuziehen, um nachzusehen, ob sie sich pflegten, und wenn sie nicht die rechte frische Haut hatten, sah er sich gezwungen, ihnen Schläge auf den nackten Hintern zu geben. Es waren nicht nur Gerüchte, die ihn umschwirrten, Substanz und Verleumdung waren vermischt. Homosexualität war strafbar, und es hieß, dass auf diesem Gebiet die Machthaber ihr schmutziges Privatleben gegenseitig deckten .
    Quensel war in den Debatten über den Verfall des Rechtswesens in den fünfziger Jahren eine nahezu mythische Gestalt.
    Er war nicht unbeschadet aus ihnen hervorgegangen, aber nun ist er allein und gebrechlich und wird bald sterben und sitzt in seiner gigantischen Wohnung auf Östermalm und will gern über die Auslieferung der Balten reden.
    Er war ja einer von denen, die deutlich gegen die Auslieferung Stellung bezogen hatten.
    Dennoch ist das Gespräch auf dem besten Weg, schon zu Beginn zu scheitern. Quensel sitzt kerzengerade und ist auf der

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