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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Enquist
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den Bürgersteigen. Übrigens nicht nur die Fensterscheiben von Banken, das Feindbild schien ausgeweitet, umfasste nicht nur Autohäuser, sondern auch Konfektionsgeschäfte, Möbelläden und Frisiersalons.
    Überall auf dem Kudamm lag Glas. Die gutherzige und idealistische Zeit war vorbei. Es ging schnell. Vom Mord an Benno Ohnesorg über die Vietnamdemonstrationen bis zur Befreiung von Andreas Baader und den Schüssen auf den Polizisten mit dem symbolischen Namen Linke. Im nachhinein wurde ja teils diese Berliner Linke mythologisiert, teils wurden die RAF-Gruppen zu Recht dämonisiert; ein paar hundert, vielleicht ein paar tausend, also die Sympathisanten , befanden sich in einem rätselhaften Limbo dazwischen.
    Zum Unterton von nahezu griechischer Tragödie trug Ulrike Meinhof bei.
    Das grundlegende Motiv des Jugendaufruhrs war ja Ungehorsam. War er eigentlich der Richtige, um dies zu verstehen?
    Geschult darin, lieb zu sein!
    Gewisse Tragödien erschaffen Heilige. Aus so guten Gründen so unerhört in die Irre zu gehen! Ulrike Meinhof wurde für ihn zu einem Bild für das Trauma des eingeschlossenen Westberlins. Vielleicht nicht nur Westberlins. Das mit dem Intellektuellen , das Ulrike von den rechtgläubigen Genossen ständig vorgehalten wurde, Intellektuelle sind quasselnde und feige Schweine – die Sprache war so –, die es nicht wagen, die Konsequenzen zu ziehen und zu handeln: es war eine fast verhexende Tragödie. Man konnte nachher und aus der Distanz klug sein, und dann versetzte es einem doch einen Stich ins Herz. Rede nicht! Tu etwas!
    Es traf das extrem intellektuelle Berliner Milieu direkt auf den Solarplexus. Die Tat! Und deshalb schritt die redegewandte und idealistische Ulrike M. von der Theorie zur Tat.
    In dem Winter, in dem er an seinem fast kaiserlichen Marmortisch in der Meinekestraße sitzt, in diesem Winter schreibt und inszeniert sie das glänzende Fernsehstück Bambule , über junge Frauen in einer Erziehungsanstalt. Wer sich fügt, wird fertiggemacht . Und dann tat sie den Schritt von den Kolumnen in Konkret zu Bankraub, Terror und einem Leben in der Illegalität.
    Ulrike Meinhofs Kolumnen las er stets im Hauptorgan der Linken, Konkret , und er erlebte sie einige Male bei Diskussionen. Er setzte sich sonst gern weit nach hinten, aber nicht, wenn sie sprach.
    Sie befindet sich, als er sie hört, noch in der Legalität.
    Brillant und fraulich weich . Äußerlich und was die Brillanz betrifft schwedischen Freundinnen in der Linken nicht unähnlich, wie Agneta Pleijel oder Maria Bergom-Larsson; die letztere wird ihn später in drei ganzseitigen Artikeln in Dagens Nyheter mit harter Hand einordnen als zwar auf eine etwas unklare Art glänzend, zum Beispiel in dem Buch, das er in Berlin geschrieben hat, aber eben scheißliberal .
    Er liest Ulrike M., als wäre sie eine von ihnen.
    Brillant, ziemlich süß. Noch hat sie den Schritt vom bürgerlichen Intellektualisieren, also vom Schreiben, zur Handlung nicht vollzogen. Vielleicht schämt sie sich aber wegen des Dichtens .
    Er versteht sie ja so gut!
    Sie wird vermutlich von der Scham der sehr Begabten über ihr Nichthandeln gequält . Ihr Dilemma wird von der Geschichte des Außenministers der Bayerischen Räterepublik illustriert, der auf der königlichen Toilette ein Telegrafenbüro einrichtet und den Staatsführern in aller Welt Ratschläge erteilt, ohne zu erkennen, dass die Verbindung schon lange unterbrochen ist. Die Leitungen gekappt. Seine Ratschläge dringen nicht durch die Toilettenwände nach draußen.
    Das ist die Rolle des Intellektuellen, sagen sie bestimmt zu ihr.
    Sie hat einen mollig weichen Charme, der ihn an irgendetwas erinnert. Ist es nicht jemand aus dem Dorf? Wie in einem Erweckungserlebnis verwandelt er sie, wie sie da vor ihm sitzt auf ihrer Westberliner Bethausbank, verwandelt sie zum Mädchen aus dem Dorf – jetzt verleumdet, aber es ist möglich, sie vor der Sünde zu retten! Ja, gab es nicht jemanden in Hjoggböle, dem sie ähnelte? Oder war es vielleicht Eeva-Lisa, von der er nicht sprechen durfte?
    Ganz genau. Wie verzaubert betrachtet er sie aus einigen Metern Abstand. Ulrike war aus dem Dorf! Auf eine gewisse Weise. Wenn er nur Kontakt zu ihr bekäme! Und die richtigen Worte fände! Damit sie nicht ins Unglück geriet!
    Später, als sie in Mord und Bankraub und Illegalität abgleitet, grübelt er oft darüber nach, ob er sie hätte retten können. Er hätte auf sie zugehen können – nach der Versammlung! Als

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