Ein Ballnachtstraum
„Hast du mal wieder etwas von Mildred gehört?“
„Nein, habe ich nicht.“
Eloise stellte plötzlich fest, dass sie immer noch die Zeitungsausschnitte aus Thalias Kommode umklammerte. „Und ich wünschte, ich hätte auch nichts von dir gehört.“
Ralph betrachtete eingehend das Ölgemälde über dem Kamin. „Ich beobachte dich schon seit einer Woche. Das war ein vornehmer Herr, mit dem du gestern ausgegangen bist. Aber ein Bordell. Gütiger Himmel, wenn das dein Vater wüsste! Keine Sorge, davon erfährt natürlich niemand in unserem Dorf. Das soll unser kleines Geheimnis bleiben, wie?“
Welche Ironie, dass sie die Skandalzeichnung, die Lord Drake Boscastles Bruder darstellte, wie ein Schutzschild vor sich hielt. Ein absurder Gedanke, eine obszöne Karikatur als Talisman zu verwenden, um sich vor einem Mann wie Ralph Hawkins zu schützen. Aber irgendwie gab ihr der Gedanke an Lord Drake Kraft. Seine Küsse hatten wie ein Zauber auf sie gewirkt. Magie und Kraft. „Geh jetzt“, befahl sie streng.
Er klopfte sich mit seinem zerbeulten Schlapphut gegen den Schenkel. „Gut. Ich komme ein anderes Mal wieder.“
Ihre Lippen wurden schmal. „Nein, das tust du nicht.“
Sein Lächeln entblößte hervorstehende gelbe Zähne wie die eines Nagers. Wie konnte sie diesen ekelhaften Kerl je anziehend gefunden haben? „Doch, ich komme wieder, Schätzchen. Und du wirst bezahlen, Ellie, sonst …“
Eloise schaute sich suchend nach einem Gegenstand im Zimmer um, den sie ihm über den Schädel schlagen könnte. „Sonst was?“
„Na ja, sonst plaudere ich aus dem Nähkästchen. Ich erzähle deiner vornehmen Herrschaft, was du mir Böses angetan hast. Ich glaube kaum, dass man eine Verrückte im Haus duldet. Man wird dich ins Irrenhaus stecken, Ellie.“
Erstaunlicherweise schlief Eloise wieder ein, nachdem der schmierige Kerl gegangen war. Die Aufregungen der letzten Nacht, Thalias Verschwinden, das Entsetzen, als Ralph Hawkins nach all den Jahren vor ihrer Tür gestanden hatte, all das hatte sie völlig erschöpft. Sie war an einem Punkt angelangt, wo ihr alles gleichgültig war.
Thalia hätte mit dem Schornsteinfeger durchbrennen, Lord Thornton seinem nichtsnutzigen Leben mit einem Sprung in die Themse ein Ende setzen können, es kümmerte sie nicht. Möglicherweise würde sie demnächst Fleischpasteten an einer Straßenecke verkaufen, auch das war ihr einerlei. Was nützte es, wenn sie ihr Unglück beweinte? Sie hatte ja nicht einmal mehr die Kraft zu weinen. Zu Tode erschöpft, den Kopf auf die angewinkelten Arme gebettet, schlief sie traumlos am Wohnzimmertisch. Sie schlief wie eine zum Tode Verurteilte, die alle Hoffnung aufgegeben hatte. Ihre letzte Empfindung vor dem Einschlafen war ein Gefühl der Erleichterung, nicht mehr um ihr Leben kämpfen zu müssen. Und dann …
… kniete der schönste Mann in ganz England neben ihr, rüttelte sie an den Schultern und redete im Befehlston auf sie ein. „Miss Goodwin, um Himmels willen, wachen Sie auf! Sagen Sie etwas. Können Sie mich hören?“ „Hmmm … was … was …?
„Haben Sie eine Überdosis Laudanum geschluckt? Sagen Sie doch etwas!“
„Was habe ich?“, fragte sie schlaftrunken und starrte ihn benommen an.
Und dann wich der Nebelschleier vor ihren Augen. Eloise fuhr erschrocken hoch, plötzlich hellwach und atemlos. Die Zeitungsausschnitte auf ihrem Schoß flatterten zu Boden. Sie versuchte aufzustehen, spürte seine starken Hände um ihre Taille, die ihr Halt gaben, den sie auch dringend brauchte, da sein Anblick sie schwindlig machte. Lord Drake Boscastle, auf den Knien vor ihr. Gütiger Himmel, hatte sie geschnarcht?
„Ich … oh Gott“, stammelte sie verwirrt. „Wie spät ist es? Haben Sie sich duelliert? Sind Sie verletzt?“
Nein, verletzt war er beileibe nicht. Er sah absolut hinreißend aus, glatt rasiert in einem grauen Gehrock und schwarzen engen Hosen. Auch nach einer schlaflosen Nacht bot er das Bild vollendeter Eleganz, trotz der müden Schatten unter seinen Augen, die seiner männlichen Attraktivität nur noch zusätzliches Flair verliehen.
Allmählich wich ihre Benommenheit, und ihr Verstand begann sich zu klären.
„Verzeihen Sie“, sagte sie verlegen. „Ich hatte keine Ahnung, dass Sie hier sind. Darf ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Oder vielleicht … Gütiger Himmel, habe ich schon gefragt … ist das Duell vorüber?“
„Ja, und es wurde kein Tropfen Blut vergossen“, antwortete er, sichtlich erleichtert.
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