Ein Band aus Wasser
unter mir gab nach. Ich fühlte die brausende Kälte der Quelle, die meine Knöchel umspülte. Dann schoss sie auch unter unseren Füßen hindurch. Ich schrie, ohne einen Ton hervorzubringen.
Dann fielen wir, Seite an Seite, die Augen weit aufgerissen, und die Erde tat sich unter uns auf, um uns zu verschlingen. Das kalte Wasser kam wie ein Schock. Ich war fassungslos, dass wir tatsächlich in der Quelle versanken und vom Wasser nach unten gezogen wurden.
So also endet das Böse in mir. Als die Fluten über uns zusammenschlugen, überkam mich eine unerwartete Ruhe. Es war vorbei, alles vorbei. Auf irgendeine Weise ergab es plötzlich einen Sinn. Seit dem Tod meines Vaters hatte sich alles in meinem Leben auf diesen einen Moment zugespitzt. Mir war etwas Schlimmes widerfahren, das, wie Melita sagte, das Böse in mir zum Vorschein gebracht hatte. Und nun endete es mit meinem Tod. Es schien angemessen, nach allem, was ich Daedalus angetan hatte, nach der Enthüllung, was ich künftig noch anrichten könnte.
In der Kürze eines Augenblicks schossen mir diese Gedanken durch den Kopf, während ich in die Augen meiner Schwester starrte. Wir befanden uns in der Quelle, und statt uns Leben zu schenken, würde sie den Tod bringen. Melita hatte diese Kluft gerade erst geschaffen, doch wir waren bereits außer Sichtweite, versunken unter der Oberfläche, im Wasser, das mit jeder Sekunde kälter und dunkler wurde.
Wir konnten uns nicht bewegen. Wir starrten uns einfach nur an, unfähig, zu sprechen oder in irgendeiner Form dagegen anzukämpfen. Manon hatte uns getötet, um zu verhindern, dass jemals wieder ein weiterer Ritus stattfinden würde. Wenn Clio und ich gestorben waren, würden sie keine volle Treize mehr bilden können. Und nicht nur, dass wir nie wieder dabei sein würden, wir würden auch nie Kinder haben, um Cerises Familie fortzuführen. Und Manon würde … ja, was? Erwachsen werden? Alt werden und sterben?
Clios Hand schloss sich fester um meine – wenigstens das konnten wir noch tun. Ich war eine gute Schwimmerin. Daddy hatte es mir beigebracht. Doch ich war erstarrt, unbeweglich wie ein Eisblock, und konnte nicht an die Oberfläche vorstoßen. Alles, was ich tun konnte, war, meiner Zwillingsschwester die Hand zu halten und ihr beim Ertrinken zuzusehen.
Wie viel Zeit war vergangen? Noch immer hielten wir beide den Atem an.
Heute würde ich sterben. Jetzt gleich.
Es war unvorstellbar. Ich verstand das zwar alles, konnte es aber trotzdem nicht begreifen.
Das Wasser war dunkel, doch klar. Ich konnte Clios Gesicht kaum noch erkennen. Siebzehn Jahre meines Lebens hatte ich nichts von ihr gewusst, meiner zweiten Hälfte, meinem eineiigen Zwilling. Jetzt kannte ich sie kaum länger als zwei Monate, doch gleich würde ich sie für immer verlieren. Und sie mich.
Ich dachte an Luc. Mein Herz krampfte sich zusammen. Clio war meine zweite Hälfte, doch Luc war die zweite Hälfte meiner Seele. Ich wusste, mein Tod würde ihm wehtun. Und Petra auch, aber nicht annähernd so sehr wie der von Clio. Über Clios Tod wäre sie am Boden zerstört. Petra würde mir fehlen. Aber bald würde ich meinem Dad begegnen. Hoffentlich. Stirnrunzelnd fragte ich mich, was die Magie wohl über das Leben nach dem Tod zu sagen hatte. Das wusste ich nicht! Es gab so vieles, was ich nicht wusste.
Schmerz legte sich über Clios Gesicht und ein Schwall Luftblasen entglitt ihren Lippen. Ich riss die Augen noch weiter auf und stellte fest, dass sie Angst hatte. Ich drückte ihre Hand fester, obwohl das Wasser so kalt war, dass meine Finger taub wurden.
Nein, Clio, gib nicht auf, noch nicht. Ich versuchte, ihr meine Gedanken zu schicken, doch ich wusste nicht, ob sie sie spüren konnte.
Sie hustete lautlos. Undeutlich sah ich, wie sich ihr Mund öffnete und Wasser einatmete. Nein, Clio, stopp! Halt den Atem an! Das war es. Sie ertrank. Gott, Clio, bitte verlass mich nicht! Mein Brustkorb fühlte sich an, als habe ein Maulesel dagegen getreten, meine Ohren waren am Zerspringen, doch ich hatte noch nicht aufgegeben.
Wenige Zentimeter von mir entfernt sah Clio mir ein letztes Mal in die Augen. Sie lächelte schwach. Ich liebe dich, formten ihre Lippen. Keine Luftblasen entkamen ihnen mehr. Ihre Finger drückten meine noch ein kleines bisschen fester, und ihre Augen, meinen so gleich, schlossen sich langsam. Ich spürte, wie ihr Körper erschlaffte.
So fest ich konnte, klammerte ich mich an ihre Hand.
Meine Zwillingsschwester war tot. Jetzt
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