Ein Band aus Wasser
ich begriffen, dass Melita Magie auf den Erdboden geschleudert und die Quelle wieder an die Oberfläche hatte treten lassen. Nach all der Zeit. Nach all den Anstrengungen, die Daedalus unternommen hatte.
» Das war Daedalus’ Kraft«, sagte Melita und wandte sich an Thais, die genauso erschlagen aussah, wie ich mich fühlte. » Eine so große, dunkle Kraft darf man nicht einfach so in die Welt entsenden, ma chérie. Eine dunkle Macht könnte sie finden und eine magische Quelle öffnen, die sie nur stärker werden ließe. Armer Daedalus. Aber er hat mir einen schwierigen, zeitaufwendigen Zauber erspart.«
Daedalus lag auf dem Boden und regte sich nicht. Ich hoffte, er war nicht tot. Ich konnte nicht glauben, dass Thais es tatsächlich getan hatte, ihm wirklich seine Kraft entrissen hatte. Es wäre besser gewesen, wenn sie ihn hätte töten können. Sie musste dies von langer Hand geplant haben, in all der Zeit, und sie hatte es mir nie erzählt.
Und jetzt musste ich mit der schrecklichen Gewissheit leben, dass er mein Vorfahre war. Es hatte mir nichts ausgemacht, von ihm unterrichtet zu werden, aber zu wissen, dass ich mit ihm verwandt war, wie entfernt auch immer, war ekelhaft.
Ich sah, wie Nan langsam zu mir vorrückte. Der Erdboden war buchstäblich aufgebrochen, der Riss wurde breiter und füllte sich rasant mit Wasser. Er war inzwischen vielleicht zwei Meter breit, vier Meter lang und wer weiß wie tief. Melita hatte den Untergrund gespalten. Ich wusste, ich würde nie wieder eine so machtvolle oder dunkle Magie zu Gesicht bekommen.
Melita hatte behauptet, Thais und ich seien böse, so böse wie sie. Ich betete, dass dies auf keine von uns zutraf. Doch ich hatte gesehen, wie meine Schwester einem mächtigen Hexer seine Macht genommen und ihn dabei praktisch getötet hatte. Er hatte sich vor Schmerz gewunden, so offensichtlich gequält und voller Angst, und doch hatte sie weitergemacht. Ich glaube nicht, dass ich das fertiggebracht hätte. Doch sie war mein eineiiger Zwilling. Wenn sie eine dunkle Seite in sich hatte, die vielleicht sogar größer war als ihre helle Seite, dann musste es bei mir wohl genauso sein.
Doch bei alledem war sie immer noch meine Schwester und sie sah so schrecklich aus wie ich. Entsetzt, krank und beschämt. Ich ging zu ihr und legte ihr genau in dem Moment, in dem Nan zu uns trat, den Arm um die Schulter.
» Seid ihr beide okay?«, fragte sie.
Ich lachte nur, ein schriller, erstickter Ton.
» Nein, sie sind nicht okay.« Eine weitere Stimme drang vom Wald her zu uns vor und ließ uns alle zusammenfahren.
Ich erblickte Manon – die neue, ältere Manon, die mit geballten Fäusten auf uns zugelaufen kam –, und mir fiel ein, dass Daedalus ein paar Mitglieder der Treize gebeten hatte, sich hier bei Sonnenaufgang bei uns einzufinden. Die Sonne war längst aufgegangen, ohne dass ich es bemerkt hatte.
» Manon, du siehst … anders aus«, sagte Melita.
» Du nicht«, erwiderte Manon knapp. » Ich wünschte, du wärst nie zurückgekommen. Mit den Zwillingen ist nichts okay«, wiederholte sie. » Und das wird es auch nie sein. Ich will keine volle Treize, ich will die Quelle nicht und ich will auch nie wieder einen Ritus. Ich will einfach nur so bleiben.« Sie deutete auf sich selbst, nicht länger ein Kind, sondern fast eine Frau.
» Aber Daedalus …«, begann Nan, doch Manon hob die Hand.
» Manon, sei nicht blö…«, fing Melita an, doch da schrie Manon schon ein paar Worte, die mir einen Schauer über den Rücken jagten, und warf etwas auf uns. Einen Stein? Es glitzerte in der Sonne – ein Kristall? Melita schrie noch lauter als sie, doch der Kristall traf Thais und mich, wo sich unsere Schultern berührten. Und bevor ich noch einmal blinzeln konnte, merkte ich, dass ich erstarrt war, so vollkommen unbeweglich, wie ich es noch nie erlebt hatte.
Kapitel 36
Thais
Ich schielte zu Clio hinüber. Auf ihrem Gesicht lag der gleiche verängstigte Ausdruck wie auf meinem, vermute ich mal. Ich versuchte, mich zu bewegen, aber ich hatte das Gefühl, in Eis eingeschlossen zu sein. So muss es für Daedalus gewesen sein. Mit Panik registrierte ich, dass sich die Quelle ausgebreitet hatte und fast unter unseren Füßen angelangt war. Meine Augen suchten Petra, und ich sah, dass sie die Hände nach uns ausstreckte. Alles lief wie in Zeitlupe ab. Ihr Mund öffnete sich, aber ihre Worte waren unverständlich. Ihre Hände griffen nach uns, bekamen uns jedoch nie zu fassen.
Der Boden
Weitere Kostenlose Bücher