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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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zwar ziemlich minderwertige Bücher. Nachts lag ich im Bett, die Arme hinterm Kopf verschränkt, horchte auf das ferne Löwengebrüll der Stadt, das mich nicht einschlafen ließ, und konnte es kaum erwarten, erwachsen zu sein und es an verruchtem Treiben den eleganten Heldinnen meiner Romane gleichzutun.
    Tags war ich dann meist unausgeschlafen und mürrisch. Gegen meinen Zustand konstanter Schlechtgelauntheit, der sich gelegentlich in Tränenausbrüchen entlud, wußte Mama nur eines: frische Luft. Sehr frisch war die Luft nicht, dafür benzingetränkt. Mama bewegte mich an den Ufern der Seine und in den verschiedenen Parks, wie ein Pferd, das der Hafer sticht.
    Auf die glücklichste Idee kam Papa. Er schlug vor, eine in der Erbmasse der Familie tief verwurzelte Neigung auszunutzen und mich auf die Kochakademie zu schicken. Französisch, so schloß er ganz richtig, lernte ich dabei sowieso. Als wir die Adresse am Faubourg St. Honoré gefunden hatten — wir hatten uns sehr verspätet, weil die Auslagen der dortigen Geschäfte so wunderschön waren — , erschrak Mama über eine in lila Tönen geschminkte Dame, die im Vorraum an der Kasse saß. Sie trat rasch noch einmal auf die Straße, in der Meinung, sie hätte sich in der Tür geirrt und dies sei ein Etablissement zur Ausbildung von Freudenmädchen. Doch nein, im Schaufenster lag, schon etwas abgekühlt und erstarrt, ein Braten auf silberner Platte, umgeben von elegant aufgeputzten Beilagen. Dies war ohne Zweifel die Académie de Cuisine du Cordon bleu.
    Ich küßte Mama zum Abschied und wurde in ein Amphitheater geführt, wo ich mich bescheiden, ein neugekauftes Heft und einen Bleistift auf den Knien, in eine der hintersten Bänke setzte. Es herrschte andächtige Stille, von leisem Wasserbrodeln untermalt. Drei Männer in Weiß hantierten, grell beleuchtet, an einem langen Operationstisch. Der Chef — man erkannte ihn daran, daß seine Mütze am höchsten war — hob einen Hummer empor, der traurig mit den Fühlern zum Abschied winkte. «Mesdames, Mesdemoiselles, Messieurs», sagte er feierlich, «wir kommen jetzt zu Hummer Thermidor. Sie» — er deutete in den Hörsaal — «und Sie wollen jetzt bitte zu mir aufs Podium treten.» Die Angeredeten, ein chinesischer Schiffskoch und eine junge Schweizerin, legten ihre Rezeptbücher weg, taten umfangreiche Schürzen um und begannen ein reizvolles Hokuspokus mit rauchendem Öl und brennendem Kognak wie in der Physikstunde. Ich schrieb fieberhaft mit. Es war eigentlich nicht so viel anders als in der Schule, der ich eben erst entkommen war, nur daß man keine Unannehmlichkeiten bekam, wenn man seine Aufgaben nicht gemacht hatte. Es gab nämlich keine. Mittags war der Unterricht zu Ende. Mama holte mich ab, und in dem kleinen Restaurant, in dem wir zu Mittag aßen, mitten unter kalkbespritzten Arbeitern und eiligen Geschäftsleuten, fragte Papa mich nach allen Details aus.
    Jeden Tag lernte ich mehrere neue Gerichte und konnte dabei meine Geschichtskenntnisse auffrischen, weil sie meist nach Generälen Napoleons oder nach Schlachten oder nach russischen Diplomaten benannt waren. Standen sie auf dem Feuer oder im Rohr, so wurden die Pausen mit Übungen an eßbaren Dekorationen ausgefüllt, die manchmal vom Fleck weg auf eine Hochzeitstafel in der Nachbarschaft getragen wurden. Dies besorgte Marguerite, eine Schwarze, die auch Schalen und Abfälle wegräumte. Ich begegnete ihr zum ersten Male in dem verzwickten System halbdunkler Gänge zwischen Kartoffelkellern und Lagerräumen unter dem Hörsaal, und sie erschreckte mich durch wohlwollendes Zähnefletschen. Dort unten lagen auch die Privatkabinen mit Miniaturküchen, in denen reiche junge Bräute in Blitzkursen den letzten Schliff für die Ehe erhielten. Die Mamas saßen meist mit einem Buch auf den Knien dabei und notierten. Monsieur Paul, in hoher weißer Mütze, führte indessen der Braut bei den Fleischpastetchen die Hand.
    Nach etwa zwei Wochen war es an mir, die Schürze anzuziehen und vor die Öffentlichkeit zu treten. Der Chef behandelte trotz der Internationalität seines Publikums jeden, der seine herrliche französische Muttersprache nicht beherrschte, wie einen armen Irren. Mir gab er ein Ei in die rechte Hand, deutete auf ein Gefäß und sagte mitleidig: «Dedans!» Hinein!
    Auch wenn einer aus der Schülerschar, anstatt sich die großen Traditionen Frankreichs anzueignen, fragte, ob hier nicht eine Prise Curry zulässig sei, verzog sich sein Gesicht

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