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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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Ich bejahte beklommen. Der tückische Mensch knallte mit der Peitsche vor sich in den Sand der Reitbahn, das Pferd stieg und ich fiel.
    Da war doch der Tennistrainer netter, er bildete sozusagen den unwiderruflich letzten Versuch von Mama, eine sportlich gestählte junge Dame aus mir zu machen. Er wäre mir vielleicht erspart geblieben, aber Onkel und Tante im Ausland hatten einen eigenen Tennisplatz, da war nichts zu machen. Der Trainer war Ausländer und konnte nur wenig Deutsch, dafür hatte er um so mehr Geduld.
    «Legen Sie der Daumen ganz fest auf dem Hinterteil», befahl er und drückte mir das Racket richtig in die Hand. «Sehr gut», sagte er stereotyp, wenn der Ball nicht gerade die Platzumgitterung verließ. «Stellen Sie nach vorne auf das ganze Plattfuß», kommandierte er, und als mir wirklich einige Bälle gelangen, kam er nachher ans Netz und schüttelte mir schweißtriefend die Hand. Er war ein liebenswerter Mensch.
    Das Rudern hingegen war für mich kein Sport, sondern eine Fortbewegungsart, zu der der See mit seiner glatten Weite und gläsernen Tiefe aufforderte. Ich ruderte auch die Gäste, denen ich etwas bieten wollte, weit auf den See hinaus, wobei es stets schwierig war, die älteren soweit zu bekommen, daß sie ihr Gewicht richtig auf der Ruderbank verteilten. Mit guten Schwimmern ruderte ich hinaus zu den «Steinen», großen Felsbrocken, die inmitten des Sees dicht unter der Oberfläche lagen und um die herum man herrlich baden konnte. Mit meinem Schwimmen war kein Staat zu machen, aber für den kurzen Weg von einem Stein zum andern langte es. Es war nicht ganz einfach, bei Wind und rauher Wasserfläche wieder ins Boot zu kommen. Wehe, es brachte einen jemand gerade dann zum Lachen, wenn man schon am Bootsrand aufgestemmt hing und das Bein über den Rand heben wollte. Die Hilfreichen, die einen dann gänzlich ins Boot zerrten, hatten noch nach vierzehn Tagen Gelegenheit, sich an der Farbenpracht der Blutergüsse an den Beinen zu weiden, die man sich dabei geholt hatte.
    Diesmal rief kein Schulzwang uns von den Badefreuden ab, als sie am schönsten waren. Wir blieben noch den ganzen September. Es war das erstemal, daß ich den beginnenden Herbst in Seeham erlebte. In den Bauerngärtlein mit der spiegelnden Glaskugel flammten die Dahlien, früh lagen Nebel auf dem See, die den Sockel der Berge verschleierten; was oben herausschaute, glich japanischen Holzschnitten. Die Abenddämmerung kam mit sanften, pflaumenblauen Tönen, gegen die der bernsteinfarbene Dampf der Misthaufen einen schönen Kontrast gab. Tagsüber tönte vom Dorf her der summende Ton der Dreschmaschine, die bald in dem einen, bald in dem anderen Hof arbeitete, und an den Bäumen leuchteten die Äpfel, von denen Bruder Leo gesprochen hatte, als er den Plan zum Haus entwarf. In unserem kleinen Keller wurden keine eingelagert.
    Es war mittlerweile klar, wo die Eltern und ich den Winter jenseits der Devisentrennwand verbringen würden: in Paris. Und just um diese Zeit sollte auch Bruder Leo wieder einmal hinaus in die Welt, um getreu der Berufsbezeichnung in seinem Paß für eine Firma riesenhafte Wälder aufzukaufen, die auf dem Balkan wuchsen. Er war prachtvoll geeignet für ein solches Geschäft, da er Papas Sprachbegabung geerbt hatte und in mehreren slawischen Idiomen schimpfen konnte. Anna der Igel hingegen wollte mit den beiden Tieren im Haus in Seeham bleiben und bei Gehalt und freier Wohnung als einzige Beschäftigung an schönen Tagen mit Ulf in den Wald gehen und Tannenzapfen sammeln. Der Balkon, vom weit vorspringenden Dach aufs oberbayrischste geschützt, nahm wahre Berge von Tannenzapfen auf, und so würde für die Teegelage um den Samowar in der nächsten Sommersaison gesorgt sein.
    Die gelben Birken standen vor den dunklen Fichtenwäldern, als seien sie aus Messing; der erste Schnee fiel auf den Bergen, und wir waren noch immer nicht abgereist. Mit dem Ordnen, Stapeln, Einmotten und Wegräumen hatte Mama schon begonnen. An einem sonnigen Tag lüftete sie auf der Veranda ihre vielen Schachteln, und Bruder Leo untersuchte gleichzeitig, warum der an der Verandastrebe hochgezogene Heckenrosenstrauch eigentlich Meltau hatte. Ob es damit zusammenhing, daß er unter dem vorspringenden Dach zu wenig Tau bekam?
    Mama entnahm, wie alle Jahre, einer großen Schachtel ihre imposanten Fächer aus Straußenfedern, einen schwarzen und einen weißen, öffnete und schloß sie, duldete es, daß ich damit vor den Spiegel lief, und

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