Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
Vom Netzwerk:
sichtlich die Bemerkung, daß man dazu den richtigen Mann heiraten müsse, aber ich hörte sie doch heraus. Nun, in Paris war er nicht gewesen, der Märchenprinz, sonst hätte ich ihn wenigstens einmal von weitem gesehen. Ich war sicher, daß ich ihn sofort erkannt hätte. Es war sehr merkwürdig, in München nur umzusteigen, anstatt wie früher ein Taxi zu nehmen und in die Elisabethstraße zu fahren, aber das Schmerzliche dieser Tatsache kam uns im Reisetrubel nicht so sehr zu Bewußtsein.
    In Oberbayern hatte die Heuernte noch nicht begonnen. In den Mulden der Berghänge, die nach Norden schauten, lag sogar noch Schnee. Der Himmel, ein ungeheurer Himmel, war klar und offen. Keine Brandmauern mit der Aufschrift Crème Eclipse oder Savon Cadum verstellten mehr die Ferne. Die von Menschenhand gemachten Dinge waren wieder klein und unscheinbar. In den Wiesen rings um unser Haus schäumten die Blüten der wilden Möhre, der Margeriten und des Schierlings.
    Unsere Bäume hatten einen gehörigen Schuß in die Höhe und Breite getan. Von weitem sah das Grundstück ganz grün und buschig aus, und das Gartentor öffnete und schloß sich mit vertrautem Laut.
    Anna dem Igel war inzwischen samt einigen ausgefallenen Zähnen jede Deutlichkeit der Aussprache abhandengekommen, so daß Papa auf ihre Begrüßungstirade mit einem liebenswürdigen: «Ja, glaub’s schon» — so ungefähr — antwortete. Ulf jaulte und hüpfte vor Wiedersehensfreude. Es war ein Wunder, daß er sich bei dem Gewedel nicht mehrfach den Schwanz an den Möbeln brach. Noch am nächsten Morgen stand er leuchtenden Auges überall im Wege und wurde auf die Pfoten getreten.
    Das Haus selber sah trotz des Igels Pflege verschlafen und unordentlich aus: Tausende von Spinnen hatten sich unter dem überhängenden Holzdach eingerichtet, und in ihren Netzen verfingen sich die seltsamen Blütenflocken, die die Weide fallen ließ. Ich ging den Wattegebilden und Spinnweben mit einem Besen zu Leibe, aber es gab keinen, der lang genug gewesen wäre. Dicht und undurchsichtig, wenn auch noch nicht allzu hoch, präsentierte sich unsere mit so vielen Hoffnungen gesetzte Hecke. Auch die Vögel nahmen sie schon ernst und bauten ihre Nester hinein. Am zutraulichsten war ein Neuntöterpaar, kleine Gentleman-Verbrecher mit schwarzer Augenmaske, die uns mit ihren aufgespießten Vorräten von Hummel bis Spitzmaus die größten Überraschungen bereiteten.
    Die Nachbarin mit den vielen Söhnen war froh, daß nun wieder mehr Milch gebraucht wurde und mehr menschlicher Kontakt entstand und fragte mich, ob man von Paris aus übers Meer fahren müsse, um nach Seeham zu kommen. Morgens weckte uns der Kuckuck, der in Oberbayern erst im Juni verstummt. Wenn ich mich früh um sechs Uhr in meinem Dachkämmerlein wohlig zur Wand unter der Schräge drehte, um wieder einzuschlafen, vernahm ich das langsam an- und abschwellende: «Wüst, öh, Wüst — öh, Sakkrament, Sakkrament...» eines Bauern, den seine Ochsen auf dem benachbarten Acker zur Verzweiflung trieben. Einen Traktor, der ein so naturfeindliches Geknatter von sich gibt, hatte damals noch kaum einer. Am Bach blühte eine weiße Kugel, die die Landschaft beherrschte, der Faulbaum, und er tat uns leid, weil er für seinen schönen Duft einen so häßlichen Namen hatte. Wenige Menschen kamen den Weg entlang, vielleicht einmal ein Versicherungsvertreter oder Hausierer. Bei unserer Küchentür verhielt er den Schritt, wies in die Weite der Felder bis zur Kiesgrube und fragte, wer dort wohne. Wir erwiderten stets mit dem gleichen innigen Genuß: «Dort? Dort wohnt niemand mehr!»
    Solange die Pariser Farbeindrücke noch in mir nachzitterten, empfand ich die Gesichter der Dorfbewohner als recht fahl und mußte manchmal erschreckt die Luft zwischen die Zähne ziehen, wenn ich sah, wie sie ihren unschuldigen Kindern zu einem bonbonrosa Jäckchen ein karmesinfarbenes Röckchen anzogen und ihnen dann, als sei es nicht der Greuel genug, ein kirschrotes Lackledertäschchen umhängten. Die Frauen gingen nicht mehr in ihren schönen alten Trachten zur Kirche, sondern radelten mit Hut und Schleier, Fuchspelz und Regenschirm an uns vorüber. Man war glücklich, wenn erst wieder Montag war und sie in ihren malerisch verblaßten, mit frischen Flicken besetzten Dirndlkleidern auf den Feldern arbeiteten. Zu Hause blieben nur die ganz Alten und hüteten die Kinderwagen und angepflockten Schafe. In den Dorfkirchen summten die Fliegen über den letzten

Weitere Kostenlose Bücher