Ein Baum wächst übers Dach
zu einem Gespräch über Land und Leute. Nie habe ich eine bösartige Bemerkung von so einem Waldweiblein gehört. Über ein Ehepaar, das in unserer Nähe ein Gasthaus führte und sich, Gerüchten zufolge, nahezu gegenseitig umbrachte, hieß es höchstens: «Ma sogt, sie hausen net guat!» Auch von einem Mädchen war einmal die Rede, das drei ledige Kinder von drei verschiedenen Vätern hatte. «Mei, ma sogt ja nix, ma is aa amal lustig g’wen», sagte das gebückte faltige Weiblein zwischen den Blaubeeren, «aber was z’viel is, is z’viel!» Es war der sanfteste Tadel, und ihr abgewandtes Murmeln ins Blaubeerkraut hinein gab ihm unpersönlich Gültiges. Manche Lebensweisheit war hierbei in possierliche Vokabeln gekleidet, die in kaum einem bayrischen Sprachführer standen, so daß ich mein konventionelles Schwabinger Volksschulbayrisch um Wesentliches bereichern konnte.
Verglichen mit Beerensuchen war Pilzesammeln etwas, das ein ungeübter Sommerfrischler erledigen konnte. Dabei traf man durchaus nicht nur Einheimische, sondern mitunter Leute, die man oberbayrisch anredete und die dann sächsisch antworteten. Es überwogen die Männer. Sie waren sachlich und ernsthaft bei der Arbeit und schnitten mit dem Taschenmesser die großen Schwämme durch, um zu sehen, ob sie innen wurmig waren. Ein Oberförster saß einmal lange neben mir, kerbte die Rinde seines viel zu dicken Butterbrotes — das Messer übertrug das Pilzaroma auf seinen schlichten Imbiß — und bot mir die Hälfte an. Von ihm lernte ich noch einige Pilzarten als ausgezeichnet kennen, die alle Leute stehenließen. Ihre Namen waren fürchterlich, zum Beispiel «violetter Rotzling», aber das schadete dem Geschmack nicht.
Wir aßen von jeher viele Pilze, die im Volksmund als giftig galten, im Pilzbuch aber als «guter Speisepilz» deklariert waren. Die Menschheit trat sie grundsätzlich um oder riß sie aus, aber manchmal fand sich noch einer an absurder Stelle, etwa am Rande einer verlassenen Abfallgrube, mitten in einem durchlöcherten Blecheimer ohne Boden oder unter einer Baumwurzel im Laub. Was auch immer wir heimbrachten, es unterlag zunächst Papas Zensur. War er einmal nicht völlig sicher, so wanderte das Exemplar sofort in den Abfalleimer. Wenn wir Gäste hatten, die außer Pfifferlingen alles mit einem mißtrauischen Blick betrachteten, dann wurden die Pilze zum Trocknen aufgeschnitten. Demjenigen unter uns, der gegen Mücken am unempfindlichsten war, wurde das Fliegengitter vor dem Fenster ausgehängt und die Pilzschnipsel darauf ausgebreitet. Geheimnisvollen Geräten zum Auffangen von Strahlen aus dem All gleichend, baumelten die Gitter vor dem Balkon. Der Gast reiste beruhigt und unvergiftet ab und wir hatten im Herbst Kartoffelsuppen mit Pilzgeschmack.
Daß nicht nur die Rücken- und Nackenmuskulatur sich bei diesen Waldsportarten stählte, sondern daß ich auch eine gute Radfahrerin wurde, ist klar. Erwähnenswerter wäre die Tatsache, daß ich mich von der Familie hinwegstahl und bei einem Fischerknecht rudern lernte. Das Wedeln und Gründeln mit den Rudern, das ich bei den Sommergästen beobachtete, stieß mich ab. Somit wurde das Rudern zum ersten Sport, dem ich mich freiwillig zuwandte. Als Kind war ich zum Schlittschuhlaufen geschickt worden und dieser Pflicht mit mürrischem Gesicht und kalten Füßen nachgekommen. Meine einzige Entschuldigung waren schwache Knöchel, die man mir mit vorsintflutlichen Riemen bandagierte. Sie überdauerten dann sämtliche Stürme, und wir konnten noch in Seeham eine Plaidrolle damit schnüren.
In dem Winter, bevor wir das Haus bauten, gab Mama mich in einer Reithalle ab, damit ich mich mit den Pferden bekanntmachte. Sie waren alle sehr hoch vom Boden, erschreckten mich durch unvorhergesehenes Schnauben, und ich hing auf ihrem Rücken wie ein Sack Kartoffeln. Der Reitlehrer, der wahrscheinlich einen Haufen unmündiger Kinder zu ernähren hatte, versicherte Mama, ich säße brillant zu Pferde und wäre das geborene Reiterblut. Mama, die ausgezeichnet geritten war, errötete freudig und nahm ein Abonnement für mich. Vor der dritten Reitstunde — wir übten noch immer deutschen Trab — steckte ich mir heimlich Watte in die Reithose. Ich bereute es bitter, denn nach zehn Minuten hatte ich das Gefühl, auf einem Holzscheit zu reiten und mußte eine Pause einlegen. In der vierten Stunde fragte der Reitlehrer, ob ich Schenkelschluß hätte. Mir war es, als fragte er mich nach einem peinlichen Leiden.
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