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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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sagte in einem unnachahmlichen Gemisch von Ermunterung und Verschmitztheit: «Such dir den richtigen Mann aus, dann kannst du sie tragen!»
    Bruder Leo klopfte sich die Hände ab, besah seinen Daumen, der von Heckenrosendornen wimmelte, und meinte beiläufig: «Mann oder nicht — arbeiten muß sie lernen, arbeiten!»
    Ich fand das brüderlich roh und außerdem ungerecht. Hatte ich nicht erst gestern den Abendbrottisch so reizend dekoriert, außerdem zwei Wappen entworfen und mit Wasserfarben angemalt und drei englische Schlager aus dem Gedächtnis niedergeschrieben, die ich am Radio gehört hatte? Ich zuckte die Achseln, fühlte mich unverstanden, ging an den Strand und setzte mich gegen die Holzwand des Mädchenbades. Ich blickte auf den See hinaus, auf dem nun kein Boot und kein Dampfer mehr kreuzten, und überlegte, ob der Weg in die Villa bei Nizza eventuell über Paris führen könnte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es in Paris aussah und welche Worte der Sohn des Präsidenten der Französischen Republik wählen würde, um mir sein Herz anzutragen. Im Wörterbuch für die Oberklassen stand es nämlich nicht.
    Es war Oktober, als Leo abgereist war und auch wir endlich losfuhren. Das Taxi, in dem wir auf das Dorf zuschaukelten, schüttelte fürchterlich, denn die ersten Herbstregen hatten den Weg aufgeweicht. Auf der Veranda stand Anna der Igel, mit sich selber redend. Miezi, das distanzierte Tier, war auf den Feldern. Ulf aber ahnte, was da geschah, winselte und trat von einer Pfote auf die andere, als er uns nachsah.
    Klein und bescheiden versanken das Dach, die Hügel und Seehams Kirchturm. Ich spürte ein zerrendes Gefühl in meinem Innern. Es ähnelte einer Blinddarmreizung, saß aber weiter oben. Ich stellte fest, daß ich das Haus unheimlich liebgewonnen hatte.
     
     
     
     

3
     
    Manche Menschen lieben Kontraste. Sie bestellen, wo sie können, Omelette surprise oder Vanilleeis mit heißer Schokolade. Und wenn ihnen später der Zahnarzt sagt, der Zahnschmelz sei gesprungen — gemerkt davon haben sie nichts. Ich reagierte auf den Kontrast zwischen Seeham und Paris außerordentlich stark, aber nicht unbedingt positiv. Zuerst war ich erschlagen von der Größe der Stadt, alle Straßen führten immer nur in neue Stadtteile und niemals an ihr Ende. Man hätte vielleicht ein Ende erreicht, wenn man den ganzen Tag gefahren wäre. Ich stand in den Metro-Stationen, in dem seltsam feuchtwarmen Brodem, der ihnen eigen ist, und starrte auf den dort ausgehängten Stadtplan, bis der Zug einfuhr und Mama mich mahnend am Arm ergriff. Ich hatte noch nie einen Stadtplan angeschaut, denn München war geographisch einigermaßen zu überblicken gewesen, und wo ungefähr der Isartorplatz lag, wußte ich aus dem Kopf.
    Als ich erfaßt hatte, bei welcher Station man aussteigt, wenn man zum Louvre will, und welchen der beiden U-Bahn-Ausgänge man benutzen muß, um noch weitere zehn Minuten einzusparen, vergaß ich die Straßen und bemerkte nur noch die Menschen. Was ich sah, schien mir bedeutend aufregender als etwa die Filme, vor deren Besuch Mama mich zurückhalten wollte. Hier war die Wirklichkeit, und zwar faustdick, Elend und Eleganz, Zärtlichkeiten auf offener Straße, Bettler, zähnefletschende Farbige, schöne Kinder, luxuriöse Geschäfte.
    Als echter Backfisch sah ich in allem und jedem nur mich, meine Hoffnungen und Ängste, meine Wünsche und Sehnsüchte. Sie waren teils albern, teils von der Art, wie man sie Eltern nicht mitteilen kann. Verstockt und voll geheimen Freiheitsdranges trottete ich neben ihnen durch die Sehenswürdigkeiten.
    Wir bewohnten zwei Zimmer mit Waschraum und Kochnische, und Mama versuchte, unser neues Domizil mit einigen heimatlichen Sofakissen und unserem chinesischen Teekännchen traulicher zu gestalten. Die Wohnung gehörte einer alten Belgierin, Madame Violet, Papa nannte sie Mutter Veilchen. Sie war blitzsauber, aber dafür lagen überall gestickte Deckchen, selbst über dem Gasherd und dem Badeofen. Im Trichter ihres vorsintflutlichen Grammophons steckten künstliche Blumen, und es gab keinen Quadratmeter Raum in ihrem Salon, auf dem nicht Nippes standen — darunter zweimal die Jungfrau von Orleans in voller Rüstung.
    In der Landessprache machte ich zunächst keine rechten Fortschritte. Die Schaffner und Zeitungsausrufer verstand ich kaum, abends bei den Verwandten, die wir besuchten, hörte ich ausschließlich Russisch, und lesen tat ich deutsch. Ich las sogar sehr viel, und

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